Die Geliebte des Normannen
der Klippe, über die der Wind pfiff, doch ihr Tun war eher auf ihre tiefe Bestürzung zurückzuführen als auf die schneidende Kälte. Hier sollte sie also leben. Wie lange? Und wie lange würde es dauern, bis Stephen kam, um sie »aufzusuchen«? Als Geoffrey ihr beim Absitzen half, klammerte sich Mary von Panik ergriffen an seine Hand.
»Ihr reist doch nicht gleich wieder ab, oder?«, weinte sie. Seine Miene war düster.
»Ich habe Erzbischof Anselm eine Mitteilung gesandt, dass ich aufgehalten werde. Ich bleibe ein paar Tage, Mary, um einige Reparaturen durchführen zu lassen und sicherzustellen, dass Ihr Euch eingewöhnt und es bequem habt.«
»Bequem?« Mary war verbittert.
»Tetly hat schon bessere Tage gesehen, das ist wahr, aber es wird Euch an nichts fehlen. Das verspreche ich Euch.«
Geoffreys Worte erwiesen sich als größtenteils richtig. Man hatte Tetly vor ihrer Ankunft gut ausgestattet. Offenbar war Stephen vorbereitet gewesen, als er ihr sein Urteil überbracht hatte. Der Verwalter war tüchtig und versuchte, ihr zu gefallen. Die Kastellanin indessen hatte Mitleid mit ihr. Marys Räume wurden stets von einem großen Feuer gewärmt, um die andauernde Kälte abzuhalten. An Essen und Trinken gab es alles, was sie sich wünschte. Mary hatte zwar keinen Appetit, dazu war sie zu sehr vom Leid überwältigt, doch im Gedanken an das Kind aß sie mehr als üblich.
Geoffrey blieb eine Woche, und Mary war ihm dankbar dafür. Tagsüber half sie der Kastellanin. Sie hatte sonst nichts zu tun und war entschlossen, sich zu beschäftigen, um nicht an die Tragödie denken zu müssen, die sie ereilt hatte. Es wäre leicht gewesen, um ihre Eltern, ihren Bruder und um ihrer selbst willen zu trauern. Abends unterhielt sie sich mit Geoffrey am Feuer. Hätte er nur bleiben können. Er war freundlich und aufmerksam. Aber sobald der Stall instand gesetzt war, brach er auf. Und Mary blieb nichts anderes übrig, als die Abende und Nächte allein durchzustehen.
Die Nächte waren es, die ihre geistige Verfassung bedrohten. Der Wind heulte wie ein Todesbote und machte das Einschlafen, gelinde gesagt, schwierig. Wenn sie dann schlief, war sie ruhelos und wachte häufig auf. Sehnsüchte quälten sie, unerreichbare Träume. Sie vermisste Edward und Margaret schrecklich und konnte es nicht fassen, sie nie mehr wiederzusehen. Und sie wünschte sich verzweifelt, dass die letzten Gespräche mit ihrem Vater niemals stattgefunden hätten. Mary war bis in ihr innerstes Wesen erschüttert.
Plötzlich war Malcolm in ihrer Erinnerung ein Fremder, nicht mehr der wunderbare Vater-König, der er für sie immer gewesen war. Sie wollte sich so an ihn erinnern, wie sie ihn ihr Leben lang gekannt, nicht so, wie sie ihn zuletzt gesehen hatte. Sie wünschte sich trotz seiner grausamen Worte seine Liebe, und obwohl er sie benutzt und verstoßen hatte. Sie wollte sich so gern dieser Liebe sicher sein und würde nun nie mehr die Wahrheit erfahren.
Ein verzweifeltes Verlangen nach Stephen erfüllte sie. Nicht nach dem kalten, hasserfüllten Mann, der er geworden war, sondern nach dem feurigen Liebhaber, dem respektvollen Gemahl, dem gerechten und ehrbaren Menschen. Sie brauchte ihn. Nie hatte sie ihn mehr gebraucht. Aber er würde kommen, wenn es ihm passte, nicht ihr, und auch nur, um sie zu benutzen.
Die Tage verstrichen eintönig. Der Januar ging in den Februar über. Ein Schneesturm folgte dem anderen; der Wind hörte nie auf. Mary hasste Tetly. Manchmal hasste sie Stephen. Ihn zu hassen, fiel ihr leichter, als ihn zu lieben, und bei Gott, sie hatte Grund, ihn zu hassen. Aber die Wutanfälle dauerten nie lange. Und ihnen folgte immer ein unkontrollierbares Sehnen.
Mary freute sich auf das Kind, das sie erwartete.
Ihr Körper hatte sich verändert. Angezogen war nur die Fülle ihrer Brüste ersichtlich, doch in nacktem Zustand freute sie sich über ihren kleinen Bauch.
Wenigstens hatte sie dieses Baby, dachte sie. Schon jetzt liebte sie ihr Kind über alles. Schon jetzt fühlte sie sich fürsorglich und mütterlich. Sie war nicht verrückt, aber da sie so einsam war, hatte sie begonnen, mit ihrem Kind zu sprechen, und manchmal sang sie ihm alte gälische Wiegenlieder vor. Dann blickten die Bediensteten sie ängstlich an, und die Kastellanin empfand Furcht und Mitleid.
Sie wussten, dass Mary schwanger war, denn sie versuchte nicht, ihren Zustand zu verbergen. Wenn die Bediensteten sahen, wie sie mit sich flüsterte, mit dem Baby,
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