Die Geliebte des Normannen
Innerhalb von drei Jahren hatte er sich eine Stellung in Lanfrancs Stab erarbeitet. Zur Zeit von dessen Tod war er der fähigste Mitarbeiter und persönlicher Assistent des Erzbischofs.
Seine Ernennung zum Erzdiakon kam nur wenige Wochen, bevor sein Mentor verstarb.
Adele schluckte und befeuchtete sich die trockenen Lippen. Die meisten Erzdiakone waren geweihte Priester, nicht aber Geoffrey de Warenne. Er schien kein weltfremder Kauz zu sein. Der letzte Bischof von Carlisle hatte weder lesen noch schreiben können, schon gar nicht Latein, und bei seinem Tod hatte er die Sakramente verweigert. Viele in der Kirche und auch zahlreiche Laien waren darüber empört gewesen. Einige dieser Kleriker stellten sich gegen Geoffrey de Warenne, obwohl dieser sehr gebildet und fromm war.
Adele fühlte mit Bestimmheit, dass er bei seinem Eintritt ins Kloster das übliche Keuschheitsgelübde abgelegt hatte. Aber lebte er enthaltsam? Das schien eher unwahrscheinlich. Denn er strahlte eine unbändige Männlichkeit aus.
Adele errötete. Sie wusste, dass sie nur eine von vielen Frauen war, die ihn beobachteten, ihn begehrten und faszinierend fanden. Die anderen kümmerten sie jedoch nicht – sie hatte keine Rivalinnen zu fürchten, weder bei Hofe noch sonst irgendwo.
Aber der Erzdiakon hatte nie auch nur angedeutet, dass er sie begehrenswert fand. Sie fragte sich nicht zum erstenmal, ob Geoffrey seine Manneskraft ebenso wie der König mit Knaben vergeudete.
Dann seufzte sie. Denn sie würde es nie herausfinden. Sie war mit seinem Bruder verlobt, Stephen de Warenne, einem der mächtigsten Erben des Landes, und sie würde die bevorstehende Vermählung niemals aufs Spiel setzen.
Adele war so sehr in Gedanken versunken, dass sie nicht bemerkte, wie sie den Erzdiakon fixierte – bis dieser sich plötzlich ihr zuwandte und ihre Blicke sich trafen. Ein Schatten huschte über sein Gesicht, vielleicht war es Ärger, dann wandte er sich rasch wieder ab.
Sie war so verblüfft, dass ihr der Atem stockte. Der Blickwechsel war so kurz gewesen, dass sie nicht sicher wusste, ob sie nicht einer Einbildung erlegen war. Ihr Herz hämmerte im Brustkorb, das Atmen fiel ihr schwer. Sie hielt rasch den Fächer vor, um sich wieder zu fassen.
»Fehlt Euch etwas, Lady?«, fragte Henry Ferrars, der Lord von Tutberry, mit zusammengekniffenen Augen.
Am liebsten hätte sich Adele selbst dafür geohrfeigt, dass sie reagiert hatte wie ein pubertierendes Mädchen. Sie brachte eine Erwiderung zustanden, doch in Gedanken war sie weder bei Ferrars noch sonst einem Mann aus dem Kreis ihrer Verehrer.
Geoffrey de Warenne hatte nie auch nur ein Wort mit ihr gewechselt, noch nicht einmal im Rahmen einer höflichen Begrüßung. Und da sie schon seit einigen Monaten in London war, hatten sich ihre Wege wegen der Verlobung mit seinem Bruder bereits ein halbes Dutzend Mal gekreuzt. Mittlerweile dachte sie, dass er sie am Ende absichtlich mied – vielleicht, weil er sie letztlich ebenso begehrte wie alle anderen auch.
Ihr Stiefbruder Roger, der ebenso blond war wie sie dunkel, drängte sich in die Menge, die Adele umgab, und nahm seine Schwester beiseite.
»Deine Gedanken sind offenkundig.«
Adele fächerte sich Luft zu, um sich abzukühlen.
»Hallo, Mylord. Wie nett Ihr seid – wie immer.«
Rogers Blick nagelte sie fest.
Adele fächerte noch heftiger.
»Was macht er hier?«, fragte Roger mit einem neuerlichen Blick auf Geoffrey. »Ich habe gehört, er wurde herzitiert. Sein Bruder ist mit ihm gekommen.«
Adele bekam große Augen und erstarrte.
»Nicht dein Zukünftiger, du kannst beruhigt sein. Er ist mit Brand gekommen.«
Erleichtert betätigte Adele wieder ihren Fächer. Es war ihr lieber, Stephen nicht bei Hofe zu sehen. Ihr Blick richtete sich wieder auf den Erzdiakon, doch als sie sein Gesicht sah, vergaß sie erneut ihren Fächer.
»Es ist irgendetwas im Gange«, meinte Roger. Sein Mund wirkte verkniffen. »Beim Blut unseres Herrn! Der König lässt mich im Dunkeln tappen. Ich muss mich wieder gut mit ihm stellen.«
»Dann musst du dich nur ein wenig anstrengen, nicht wahr, Roger?«
»Und welcher Angelegenheit willst du dich widmen, liebe Schwester, wenn ich nicht auf dich aufpasse?«
Adele ignorierte seine Worte. Sie lächelte ihrem Stiefbruder zu. »Bald wirst du dich nicht mehr um Rolfe de Warennes Macht oder die seiner Söhne sorgen müssen«, meinte sie mit belegter Stimme. »Bald werde ich die Gemahlin seines Sohnes und voll in sein
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