Die Geliebte des Normannen
ihre Gefühle gut verstehen.
»Mary?«, sagte er leise. Sie zuckte zusammen und drehte sich langsam um, die Augen glasig von Tränen, die sie nicht weinen wollte.
»W-was ist geschehen?«
Stephen zögerte. Was würde seine eigensinnige kleine Braut tun, wenn er ihr ihr Schicksal kundtat? Er gab sich keinen Illusionen hin; er glaubte nicht, dass sie in seine Arme sinken würde.
»Wir werden heiraten«, sagte er leise. »Ihr und ich, in vier Wochen.«
»Liebe Mutter Gottes«, hauchte Mary und sank zu Boden.
Stephen fing sie auf und schlang seine Arme um sie. Er hatte ihr Entsetzen und ihre Qualen gesehen. Er verstand sie, und deshalb wurde er nicht zornig. Er war vielmehr sehr bewegt.
In seiner Umarmung wurden ihre Brüste an seinen Oberkörper gedrückt, ihre Schenkel berührten seine harten Lenden, und ihr Gram wandelte sich in entschlossene Verweigerung. Ihre Finger gruben sich in seinen Kettenpanzer. Sie blickte zu ihm hoch.
»Das glaube ich nicht!«
»Euer Vater und ich haben uns geeinigt«, erklärte Stephen behutsam.
»Ich glaube Euch nicht!« Mary drückte sich von ihm ab, und er ließ sie gewähren. Sie blickte ihn entsetzt an und atmete schwer. »Das ist eine List!«
»Ihr wart mit dabei.«
Er sehnte sich nach ihr.
»Das ist eine List!« Mary weinte erneut. »Malcolm hasst Euch und Eure Familie mehr als jeden anderen, bis auf Euren elenden König. So lange ich mich zurückerinnern kann, hat er immer auf Northumberland geschimpft. Er würde mich nie an Euch vergeben, niemals!«
Stephen konnte nicht zornig werden. Er wusste schon seit einiger Zeit, dass Mary ihren Vater anbetete. Für sie war er ein Gott, kein Schurke. Und deshalb konnte sie nicht glauben, dass Malcolm der Verbindung zugestimmt hatte. Und nicht nur das – er hatte es lediglich seines eigenen Vorteils wegen getan, um seinen Ehrgeiz zu befriedigen; nach dem Wohlergehen seiner Tochter hatte er nicht ein einziges Mal gefragt. Stephen war ein Mann, der sich an die Realitäten hielt, doch für dieses Mal wollte er ihr die Wahrheit ersparen.
Mary schüttelte verwirrt den Kopf.
»Ist es denn keine List?«, fragte sie verzweifelt.
Am liebsten hätte Stephen sie umarmt und gedrückt, wie er es mit Isobel tat. Stattdessen berührte er leicht ihre Wange. »Ich mache dir nichts vor, Mary.«
Sie zuckte nicht zurück. Ihre großen Augen waren tränenverschleiert.
Stephen nahm sich vor, die Wahrheit über ihren Vater vor ihr zu verbergen. Er lächelte freundlich.
»Malcolm wollte mich für das, was ich getan habe, töten. Aber als er vom Verlust deiner Unschuld erfuhr, blieb ihm keine andere Wahl, als sich geschlagen zu geben.«
»Er hat ...« In ihrem Ton lag Hoffnung.
»Du brauchst nicht alle Einzelheiten zu wissen, aber alles in allem ist diese Verbindung für uns beide gut. Diese Ehe ist keine Strafe, Mary; in der Tat wird sie, wenn du sie erst einmal akzeptiert hast, uns beiden alles andere als zuwider sein.«
Sie bewegte sich nicht. Stephen lächelte ihr noch einmal zu, beugte sich zu ihr und küsste sie vorsichtig. Es war ein liebevoller, flüchtiger Kuss, nichts weiter, doch sein Verlangen regte sich sofort. Seine Augen wurden dunkel, und jegliche Gedanken an Freundlichkeit verschwanden.
Er berührte ihr Kinn. Doch der Kuss hatte auch Mary neu belebt. Sie schlug seine Hand beiseite.
»Ich brauche Euer Mitleid nicht, Normanne!«
»Ich bemitleide Euch wohl kaum, Mademoiselle.«
»Und ich brauche auch Eure Freundlichkeit nicht!« Tränen füllten ihre Augen. Sie warf einen verächtlichen Blick auf seine Lenden. »Ich weiß genau, welche Freundlichkeit Ihr im Sinn habt!«
»Mary.« Er versuchte erneut, sie zu berühren.
Sie schüttelte ihn schreiend ab.
»Ich wollte meinem Vater ein Lösegeld ersparen, indem ich Euch meine Tugend gab, aber anscheinend habe ich stattdessen Euren größten Ehrgeiz befriedigt. Aber das ändert gar nichts! Diese Verbindung ist gut für Euch – nicht für mich!« Damit machte sie kehrt und rannte hinaus.
Stephen musste sich beherrschen, ihr nicht nachzulaufen. Auch er wusste, was das Ziel seiner Freundlichkeit war. Wie geschickt war sie doch darin, seine Leidenschaft auszulöschen und seinen Zorn zu erregen. Dennoch erwachte in seinem Herzen Zärtlichkeit – eine Zärtlichkeit, der er sich siebzehn schmerzlich lange Jahre verweigert hatte.
TEIL 2
9
Adele Beaufort sah ihn sofort, als er den Saal betrat, und wandte rasch den Blick ab. Der Erzdiakon von Canterbury schritt gerade durch die Menge
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