Die Geliebte des Normannen
Gierig inspizierte sie jeden Zentimeter seines makellosen Körpers. Er hatte einen Arm über das Gesicht gelegt, sodass sie nicht wusste, ob er schlief oder nur ruhte. Sie seufzte. Noch nie hatte sie ein Mann zu solchen Höhen der Ekstase getrieben.
Dann lächelte sie. Dies war erst der Anfang. Dessen war sie so sicher, wie sie sich in ihrem Leben noch nie einer Sache sicher gewesen war. Dies war erst der Anfang für sie beide. Nun konnte sie froh sein, dass er ein Kirchenmann war. Denn selbst wenn sie eines Tages heiratete, was sie sicher tun musste: Er würde nie einer anderen gehören. Er würde nur ihr gehören. Das war ein Versprechen, das sie sich beiden gab.
15
Duncan war äußerst schlecht gelaunt. Wer war ihm bei Mary zuvorgekommen und hatte den Anschlag auf ihr Leben dann auch noch so gründlich verpfuscht?
Bei den Lords und Ladys am Hof machte der Klatsch schon seit Sonnenaufgang die Runde. Die einen sagten, die Prinzessin habe versucht, aus dem Tower zu fliehen, andere, sie sei entführt worden.
Aber aus welchem Grund sie sich auch immer außerhalb der Mauern befunden hatte, alle waren sich darüber einig, dass kein Mensch ohne einen kräftigen Schubs in die Themse fallen konnte.
Offenbar hatte niemand gesehen, wie es passierte. Duncan hatte diskret die Wachmänner befragt, doch sie hatten nur Stephens entschlossene Rettung der Prinzessin aus den dunklen Tiefen des Flusses beobachtet und wie er sie auf unglaubliche Art und Weise vom Tod ins Leben zurückholte.
Duncan war fuchsteufelswild. War denn dieser de Warenne immer zur rechten Zeit am rechten Ort? Wäre der Bastard nicht im Morgengrauen am Kai gewesen, dann wäre Mary jetzt tot, und er, Duncan, würde sich nicht die Schuld an einer Bluttat aufbürden müssen.
Wie alle anderen konnte sich natürlich auch Duncan leicht ausrechnen, wem am meisten daran lag, die Verbindung zwischen Schottland und Northumberland zu verhindern. Die nächste Frage war, würde die andere Partei – oder Parteien – es erneut versuchen, und dann mit Erfolg?
Er bezweifelte es. Die de Warennes waren auf der Hut. Kein Mörder würde ab jetzt die geringste Chance bekommen, Mary ins Jenseits zu befördern. Duncan war also zu Recht wütend. Denn das galt auch für ihn. Und er war nicht so dumm zu versuchen, Mary unter diesen Umständen zu ermorden.
Nein, er musste seinen Plan hintanstellen, wenigstens vor der Hochzeit, wenigstens für den Moment. Vielleicht musste er sogar andere Mittel anwenden.
Doch sein Ziel blieb dasselbe. Er konnte eine Verbindung zwischen seiner kleinen Schwester und Stephen de Warenne nicht zulassen.
Als Erstes nahm Mary die Stimmen wahr. Leises Gemurmel, schwach, kaum hörbar. Sie glaubte zu träumen. Dann merkte sie, dass das raue, hohle Gefühl in ihrer Lunge kein Traum sein konnte. Die Stimmen wurden lauter, voneinander unterscheidbar. Plötzlich erkannte Mary den markanten Tonfall der Gräfin von Northumberland und die hohe Kinderstimme ihrer Tochter Isobel und kehrte in die Gegenwart zurück. Ihr Verstand erwachte.
Sie wäre beinahe ertrunken. Mary versteifte sich, sie gewahrte nur am Rande, dass Menschen über sie gebeugt waren. Empfindungen überfluteten sie: Wie sie in die nasse, düstere Schwärze hinabgezogen wurde, wie Panik ihre Brust erfüllte, ihre Lunge brannte, brannte, brannte ...
Oh, lieber Gott, sie hatte versucht zu fliehen, aber stattdessen war sie in die Themse gestoßen worden – und wäre fast gestorben.
Jemand hatte versucht, sie zu ermorden.
»Mutter, Mutter, sie ist wach!«, rief Isobel aufgeregt. »Könnt Ihr mich hören?«, fragte die Gräfin leise.
Wieso war sie nicht tot?
Mit erschreckender Klarheit erinnerte sich Mary an ihre letzten Gedanken, bevor sie das Bewusstsein verlor.
Dann fiel ihr alles wieder ein. Die Szene war deutlich, glasklar: Stephen, der sie im Fluss im Arm hielt, während sie dahintrieb wie eine Tote, dann Brand, der sie ans Ufer brachte.
Mary öffnete weit die Augen. Wie konnte sie eine solche Erinnerung haben? Die Perspektive erschien ihr ganz verkehrt – als befände sie sich weit über den Dingen und blicke auf das einzigartige, seltsame Schauspiel hinab. Aber es war kein Schauspiel gewesen. Mary war sicher, dass das, was sie gesehen hatte, wirklich geschehen war. Denn nun entfaltete sich die Szene wie bei den Darbietungen, die von fahrenden Schauspielern vorgeführt wurden, mit erschreckender Intensität und verblüffender Schnelligkeit. Brand, der sie auf das Dock legte,
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