Die Geliebte des Normannen
Stephen, der aus dem Wasser gezogen wurde. Dann war er über ihr und klopfte auf ihren Rücken. Drehte sie um, bat sie zu atmen. Und dann atmete er die Luft aus seiner Lunge in die ihre. Die Erinnerung wurde dunkler, die Bilder begannen zu verschwimmen. Mary konnte noch deutlich hören, wie Brand zu Stephen sagte, sie sei tot. Danach vernahm sie nichts mehr, die Erinnerung wich einer bleiernen Schwärze, einem Nichts.
Die Gräfin lächelte.
»Hallo, Prinzessin. Wir haben darauf gehofft, dass Ihr bald aufwachen würdet.«
Mary blinzelte.
Hatte sie sich wirklich selbst an der Schwelle zum Tod gesehen? War ihre Seele vielleicht schon auf dem Weg in den Himmel gewesen? Hatte Stephen sie irgendwie zurückgeholt?
»Ihr wärt beinahe gestorben, Lady Mary«, rief Isobel. Sie ergriff ihre Hände und drückte sie mit offenkundiger Freude darüber, dass Mary tatsächlich am Leben war.
»Ich wäre beinahe gestorben«, wiederholte Mary.
»Isobel, überanstrenge die Prinzessin nicht«, mahnte Lady Ceidre ernst.
Doch Mary setzte sich auf und hielt Isobels Hände fest. »Hat Stephen mich gerettet? Hat Stephen in meinen Mund geatmet?
Die Gräfin und Isobel waren verblüfft.
»Aber – wie könnt Ihr das denn wissen?«, fragte Ceidre verwundert. »Stephen sagte, Ihr wärt bewusstlos gewesen, ohne Atmung, beinahe tot.«
Mary sank auf das Bett zurück, ihr Herz pochte. Sie schloss die Augen. Heiße Tränen brannten unter ihren Lidern.
Sie war fast gestorben.
Stephen hatte sie gerettet. Stephen hatte ihr das Leben zurückgegeben.
Und so wenig sie sich selbst die seltsame Erinnerung daran erklären konnte, wie er sie auf dem Dock wiederbelebt hatte, so wenig konnte sie sie ihnen erklären. Nur eines war klar: Dass sie lebte, war ein Wunder. Sie schuldete Stephen weit mehr als nur Dank.
»Isobel, bring mir ein Hemd und ein Gewand«, sagte die Gräfin. Isobel beeilte sich zu gehorchen. »Hebt die Arme hoch, Liebes, ich helfe Euch beim Anziehen.«
Mary gehorchte. Während Stephens Mutter ihr beim Ankleiden half, dachte sie daran, wie sie versucht hatte, ihn zu betäuben. Entweder war er ein Übermensch, oder er hatte ihren Plan durchschaut. Nun war es leicht, sich dafür, dass sie ihn hintergangen hatte, schrecklich zu fühlen. Wie konnte sie so etwas nur tun?
»Geht es Euch gut, Mary?«, fragte die Gräfin besorgt. Mary erstarrte, sie fand keine Worte. Im Türrahmen stand der Mann, dem ihre Gedanken galten.
Ein trübes Licht fiel durch die Fenster des Gemachs und umhüllte Stephen; sie konnte seine Miene nicht erkennen. Marys Herz donnerte. Sie verspürte den Drang, ihn zu rufen, ihn zu begrüßen, ihm zu danken, ihm ein namenloses Gefühl mitzuteilen, das sie nicht zu benennen wagte. Doch sie tat nichts. Sie fiel nur auf ihr Kissen zurück und beobachtete ihn.
Er kam durch den kleinen Raum auf das Bett zu.
»Guten Tag, Mademoiselle.«
Mary wusste, sie musste diesem Mann danken und sich für ihren entsetzlichen Verrat bei ihm entschuldigen. Aber sie konnte noch immer nicht sprechen.
Ebenso wenig konnte sie den Blick von ihm wenden; in der Tat bemerkte sie nicht einmal mehr die Anwesenheit der Gräfin und Isobels.
Schließlich sagte er: »Wir haben darauf gewartet, dass Ihr aufwacht.«
Mary befeuchtete sich die trockenen Lippen.
»Hier«, sagte Isobel und reichte ihr sofort einen Becher Wasser. »Trinkt, Lady.«
Die Gräfin richtete sich auf. »Komm, Isobel, Stephen möchte mit seiner Braut ein wenig allein sein.«
Mary hörte diese Worte kaum, sie sah nicht einmal, wie die Gräfin mit ihrer Tochter das Zimmer verließ. Sie hatte nur Augen für Stephen. Er war ernst, sie war ängstlich und stumm.
Einen Augenblick später saß Stephen auf dem Bett, und Mary lag in seinen Armen.
Es war so natürlich, sich an ihn zu schmiegen. Er gab ihr Stärke und Sicherheit, Macht und Verlässlichkeit, er war das Leben. Die Intensität und die Vielzahl ihrer Gefühle machten sie fast wahnsinnig. Wie sicher sie sich fühlte, wie aufgehoben, wie gut. Das Leder seines gefütterten Wamses lag weich an ihrer Wange. Sie hielten einander lange fest, ohne sich zu bewegen oder zu sprechen.
Bis er ihr ins Ohr flüsterte: »Ich bin jedenfalls mehr als froh, Euch wach zu sehen.«
Mary drehte langsam den Kopf, damit sie ihn anschauen konnte.
War es möglich? Konnte dieser Mann nach allem, was sie zusammen durchlitten hatten, immer noch Zärtlichkeit für sie empfinden? Nach allem, was sie getan hatte? Hatte er nicht sein Leben für sie
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