Die Geliebte des Trompeters
geradezu obszöne Weise sauber und wohlgenährt. Sie hatten nichts mit ihm zu tun. Mit ihm nicht und nicht mit der Stadt, in der er nun lebte. Er wandte sich um und ging. Und gleichzeitig schämte er sich dafür.
|51| Er war unruhig. Er war auf der Suche und er dachte, dass es mit diesem Mädchen zu tun hatte. Es ging ihm schlecht, und gleichzeitig genoss er dieses Warten und diese Erregung. Es begleitete ihn schon lange, dieses Gefühl, darin fühlte er sich zu Hause. Die Sehnsucht tat weh und wärmte wie eine von Mutters grünen Mohairdecken, die sie von Umzug zu Umzug mitgenommen hatte. Immer dünner waren die Decken geworden, immer schäbiger, aber sie wärmten doch. Für den Jungen war Wärme grün. Immer stellte er sich Gefühle in Farben vor: Wut war blau, Sehnsucht und Wärme waren grün und Glück – er wusste es nicht, aber er dachte, dass das Glück wahrscheinlich gar keine Farbe hatte. Es war kristallklar wie Wasser und funkelte in allen Farben. Er liebte das Wasser. Er vermisste es hier in der Kaserne.
Der Junge zog sich in eine dunkle Ecke zwischen den Unterkünften zurück, die Trompete unter dem Arm. Es war ein warmer Maiabend, in dem noch die Frische und die Feuchtigkeit des Frühlings lagen. Der Junge benetzte seine Lippen und spielte. Zwei Sergeants kamen vorbei. Sie lachten und wiesen in den Himmel: Da oben wirst du deine Süße nicht finden, Kleiner! Komm lieber mit uns! Aber der Junge hörte sie nicht. Er spielte nur für sich allein.
Ein paar Tage später ging der Junge zum ersten Mal aus. Er war noch nicht volljährig, und Howard Glitt, sein Bandleader, passte auf wie ein Wachhund, aber der Junge schaffte es, sich zusammen mit ein paar Kumpanen davonzustehlen. Ein Club war entstanden, einer von vielen Amüsierbetrieben, die hektisch rund um das zerstörte Zentrum der Stadt wuchsen, als müssten sich Besatzer und Besetzte jede Nacht versichern, dass sie noch am Leben waren. Tagsüber schlichen sie umeinander herum, kontrollierten oder ließen sich kontrollieren, überprüften oder wichen einander aus, erteilten Befehle oder |52| gehorchten, machten Geschäfte oder verweigerten sie – eine alltägliche, heikle Balance, die beide Seiten anstrengte, ja überforderte. Auf der einen Seite die ausgehungerten, kriegsmüden Berliner, die Einkesselung, Endschlacht und das grausame Regiment der einrückenden Roten Armee überstanden hatten, auf der anderen Seite die jungen, meist ahnungslosen amerikanischen Soldaten, die mit diesem Ausmaß der Zerstörung nicht gerechnet hatten und die nicht wussten, ob sie bleiben oder möglichst bald wieder zurückwollten.
Wer waren diese Deutschen? Nazis seien sie alle, hatten die Vorgesetzten erklärt, verdorben durch jahrelange Propaganda, glühend und gläubig ihrem weltvernichtenden Führer ergeben und nur darauf aus, sich wiederum zu bewaffnen, den Kampf erneut zu beginnen und doch noch die Herrschaft über die zivilisierte Welt anzutreten. Vorsicht sei geboten, äußerstes Misstrauen, denn diese Deutschen seien zu allem fähig. Die GIs sahen das nicht. Was sie sahen, waren Frauen. Frauen und Kinder. Kinder, die genauso lachten und spielten wie die Kinder zuhause. Und Frauen, die leben wollten, unbedingt leben. Die Soldaten wurden mitgerissen von der verzweifelten Lebenslust dieser Frauen.
Der Club lag im Bezirk Tempelhof, im Eckwinkel eines vormals imposanten Stadtpalastes, der Anfang der dreißiger Jahren für einiges Aufsehen gesorgt hatte. Der einst berühmte Tanzsaal war ebenso wie der rückwärtige Teil des Gebäudes völlig zerstört, aber im Keller war in aller Eile ein neuer Treffpunkt entstanden, ein Musikclub. Merkwürdig verhielt es sich mit diesem Jazzclub. Er war keineswegs so überfüllt wie die Tanzpaläste. Die Menschen kamen nicht massenweise, und es gab auch kein Gerangel um Karten. Es war vielmehr so, als ob ein stiller, stetiger Strom darauf zuflösse: Um die Ecken, aus den Trümmergrundstücken, hinter Ruinen hervor und |53| aus den Schächten der Bahnen kamen sie. Einzeln, zu zweit und in kleinen Gruppen. Unbeirrbar und still. Jeden Dienstag, Donnerstag und Sonnabend. Frauen, die vergessen wollten und versessen waren auf das Fremde. Amerikanische Soldaten, für die Charlie Parker plötzlich nach Heimat klang. Ausgemergelte Kriegsheimkehrer, hungrig nach etwas, das sie nicht gleich in einen Marschrhythmus zwänge. Und Schieber und Schmarotzer und Flittchen und nervöse Franzosen, dazu Briten, die schworen, dass es hier den
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