Die Geliebte des Trompeters
schnarchten, dachte Chet über diesen glücklichen Tag nach und über die Einfachheit und über den Zusammenhang zwischen beidem. Er wusste, dass er etwas Wichtiges entdeckt hatte, und fürchtete gleichzeitig, es wieder zu vergessen. Er erinnerte sich an andere Mädchen und andere Verabredungen, zu Hause, in Kalifornien. Er dachte an die komplizierten Regeln des
Datings
.
Es war genau festgelegt, wann was unter welchen Bedingungen zu geschehen hatte. Dem Jungen fiel dabei zwangsläufig der aktive Part zu. Er war es, der Verabredungen einforderte. Er war es, der das Mädchen abholte, nach Hause begleitete, der mit dem Vater des Mädchens die Verhandlungen darüber führte, bis zu welcher Uhrzeit der Ausgang gestattet war. Einmal unterwegs, suchte der Junge die Ziele der Verabredung aus, bestellte Speisen und Getränke. Er wählte. Er zahlte. Und er hatte doch, wenn er einmal ein Dating begonnen hatte, keine Wahl mehr, und was er fühlte, durfte keine große Rolle spielen: Erwartungen waren zu erfüllen. Bei der ersten Verabredung – allenfalls ein etwas zu intensiver Händedruck. Noch nicht bei der zweiten, aber sicher bei der dritten – ein erster Kuss. Danach – mehr Küsse. Und die Hände nicht vergessen. Jahrzehntelang waren diese Rituale des Küssens und Fingerns von Generationen von Jugendlichen eingeübt worden, und ihre Regeln waren so fest und anspruchsvoll wie die Wettbewerbsregeln im Collegeclub. Ein Mädchen, das man eben noch zärtlich im Arm gehalten hatte, konnte einen im nächsten Augenblick ohrfeigen, weil man ihm zu früh an den Busen gegriffen hatte. Es konnte aber auch in hysterische |72| Tränen ausbrechen, wenn man es nicht tat. Dann, wenn der Zeitpunkt gekommen war. Wann dieser Zeitpunkt war, das stand fest. Das hatten die Fünfzehn-, Sechzehnjährigen immerzu im Kopf. Ihre Köpfe waren voll von Regeln. Und die Herzen leer. So empfand er es jedenfalls. Er dachte an Moyra. An die temperamentvolle Moyra mit den dunklen Locken, deren Wildheit er gemocht hatte und deren fröhliches Lachen für ihn wie eine Verheißung klang. Aber kaum hatten sie gemeinsam das Haus ihrer Eltern verlassen und ihrem schmerbäuchigen Vater zum Abschied gewunken, verwandelte sich das Mädchen in eine dieser verkrampften Vorstadttöchter, die nur noch kicherten und gackerten und dauernd o nein, Chet, wirklich, Chet, aber das ist ja unglaublich!, sagten. Sätze, die unaufhörlich tropften und rannen wie ein undichter Wasserhahn. Chet hätte ihr am liebsten den Mund zugehalten, aber das wagte er damals noch nicht. Oder Penny, eine Brünette aus gutem Hause, die entschieden seine Hand nahm, sich auf die linke Brust legte und sagte: Lass es uns kurz machen!, denn die Arzttochter fand schon damals, sie hätte keine Zeit zu verlieren und ganz sicher ein Recht darauf, über diesen armen Wicht zu bestimmen. Moyra hatte er fassungslos nach Hause gebracht, und Penny hatte er nicht angerührt, aber bei anderen Mädchen hatte er mitgespielt. Hatte dem Geplapper zugehört und die falsche Fröhlichkeit ertragen. Hatte Taschentücher bereitgehalten, wenn es schlecht lief und Taschentücher, wenn es gut lief. Hatte kleine Brüder bestochen und den Ford-Rücksitz wieder gesäubert, bevor er den Wagen zurückgab. Hatte pflichtgemäß geküsst und pflichtgemäß seine Lippen wieder von denen des Mädchens gelöst. Küssen zuerst mit geschlossenem Mund! Das erinnerte ihn an die Essensregeln zuhause: Kau mit geschlossenem Mund, Chettie! Und Chettie kaute. Und schluckte. Die Mädchen fanden, dass er miserabel küsste, weil er immer versuchte, seine |73| Zahnlücke zu verbergen, und lachten über ihn, aber sie liefen trotzdem hinter ihm her. Und Chettie dachte an seine Mutter und verstand nicht, was für ein Aufhebens alle von diesen Dingen machten. Vielleicht mochten ihn die Mädchen deshalb. Weil sie seinen Gleichmut für lässig hielten, seine Ungerührtheit mit Reife verwechselten. Ein smartes Bürschchen, dieser Chettie! Und mit langen Wimpern! Chet bemerkte, dass er sich an kein einziges Gesicht erinnern konnte. Vielleicht war das das Erwachsenwerden: dass alles hinter einem verschwamm. Chet fand diesen Gedanken nicht sehr reizvoll. Er schlief lange nicht ein.
Irgendetwas war anders in der Schöneberger Wohnung in der Akazienstraße. Alles war dunkel, in der Küche roch es nach dem üblichen Kohl, nach Brühe und Kleidern, und dennoch: Etwas war anders. Wegener grunzte. Wie üblich hatte ihn seine Frau hierher ausquartiert,
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