Die Geliebte des Trompeters
tastete sich vorwärts. Da war ihr Bett. Sie berührte mit den Fingern das kalte Eisen. Ein Stück |76| links von ihr drehte sich Renate im Schlaf um. Riccarda zog sich im Dunkeln halb aus, behielt die Unterwäsche an, tastete am Fußende des Bettes nach der Strickjacke, die ihr Vater dagelassen hatte und die ihr seit Wochen als Nachthemd diente. Sie berührte einen Fuß. Einen sehr harten, schrundigen Fuß. In ihrem Bett lag jemand! Sie unterdrückte einen Schrei, richtete sich abrupt auf. Renate hatte einen so leichten Schlaf, dass sie anscheinend auch Schreie hörte, die niemand ausstieß.
Komm her!, flüsterte sie von links. Komm zu mir!
Wer ist das, zum Teufel?, zischte Riccarda, nun eher ärgerlich.
Komm her, sage ich!, flüsterte Renate.
Riccarda gab es auf und tastete sich barfuß zu ihrer Schwester. Decken wurden zurückgeschlagen.
Komm zu mir, sagte Renate noch einmal. Bei dir ist belegt. Marie. Kann nicht mehr bei Mutter schlafen! Du wirst es nicht glauben: Vater ist wieder da. Mutter hat Vater wieder hereingelassen.
Und damit, so, als hätte sie lediglich die Nachricht überbracht, dass sich ein Zug verspätete, warf sich Renate auf die andere Seite, drückte ihren Hintern gegen Riccarda und schlief wieder ein. Renate konnte immer schlafen.
Riccarda glaubte, sie hätte nicht richtig gehört. Hatte ihre Schwester gesagt, der Vater sei wieder da? Also wirklich wieder – in der Wohnung? Bei seiner Familie? Sie konnte es nicht fassen. Vater, Mutter, Kind – diese Vorstellung war im Frühjahr 1947 äußerst unglaubwürdig. Riccarda drehte sich auf den Bauch, winkelte einen Arm an, berührte mit dem Daumen ihre Oberlippe. Das hatte sie schon immer beruhigt. Vater! Mutter! Es war furchtbar fremd und weit weg.
Sie dachte an den amerikanischen Jungen, mit dem sie sich |77| heute verabredet hatte. Die Amerikaner, die Jungen – ja, selbst dieses halbe Kind mit seinen Kohleaugen war ihr näher, als es der Vater jetzt war. Sie sah den Jungen vor sich, wie er sich eine Haarsträhne aus der Stirn strich, wie er sich eine Chesterfield ansteckte und darauf achtete, ihr den Rauch nicht ins Gesicht zu blasen. Wie er dasaß, mit einem Ellenbogen nach hinten abgestützt und sie anschaute, entspannt, aber ohne ein Lächeln. Man wünschte sich von diesem Jungen so sehr, dass er lächelte! Sie selbst hatte viel gelächelt an diesem Tag, das merkte sie nun, seit Monaten hatte sie nicht mehr so viel gelächelt, die Gesichtsmuskeln taten ihr weh von der ungewohnten Anspannung. Riccarda drehte sich auf den Rücken und betastete mit den Fingern ihr Gesicht. Es fühlte sich anders an, weicher, so, als hätte sie gut gegessen. Da hörte sie, dass jemand weinte. Ein leises, unterdrücktes Schluchzen. Marie weinte. Marie im Bett nebenan dachte an Irmgard, ballte die Fäuste und weinte.
Als Riccarda am nächsten Morgen aufwachte, war Maries Bett leer. Es fiel ihr gleich auf, und dann erst bemerkte sie es: Sie
sah
. Sie
sah
, dass Maries Bett leer war, und sie
sah
ihre Schwester mit strahlendem Blick neben sich stehen. Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Es war hell im Zimmer! Hell wie auf der Straße, hell wie auf dem Platz vor der Kirche, beinahe so hell wie am Wannsee! Irgendjemand hatte die Pappen von den Fenstern entfernt, und Riccarda konnte die Helligkeit geradezu mit Händen greifen: Der Tag stand mitten im Zimmer.
Sie schwang die Füße aus dem Bett und blinzelte. Ihre Schwester strahlte und nickte: Fenster! Sie hatten gestern Fenster geliefert bekommen! Nicht für alle Zimmer natürlich, aber für das Kinderzimmer und für die Küche. Irgendwo musste man ja anfangen, irgendwo begann sie, die neue Normalität. |78| Riccarda merkte nicht, dass sie den Kopf schüttelte wie ein Hund, der nicht fressen will. Dabei schmeckte ihr, was man ihr da gerade vorsetzte! Dabei waren sie hungrig nach jedem Happen, nach jedem noch so kleinen Fetzen von Ordnung, wie es einmal selbstverständlich gewesen war. Dichte Fenster. Licht und Trockenheit. Es war normal. Es war nicht zu fassen. Riccarda schüttelte noch immer den Kopf.
Nein!, rief sie endlich, nein, nein!
Doch!, rief Renate.
Nein, nein, nein!
Doch, doch!
Was für ein alberner Refrain! Sie lachten, sie sprangen, sie tanzten umeinander herum und hielten sich in den Armen. Dann führte Renate Riccarda zum Fenster, als zeigte sie der kleinen Schwester den Weihnachtsbaum: Fühl mal. Riccarda berührte das Glas beinahe andächtig. Sie hielt das Gesicht dicht an die
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