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Die Geliebte des Trompeters

Titel: Die Geliebte des Trompeters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Jaskulla
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Herkunft, nein, vom Zwielicht gekennzeichnet waren beinahe alle Beziehungen: unklare Zweckbündnisse, notdürftig als Leidenschaften verbrämt, Notbehelfe, um Kälte und Knappheit besser zu überstehen, Bindungen auf Zeit, die halfen, das Nest nicht völlig auskühlen zu lassen, bis sein rechtmäßiger Besitzer zurückkäme. Wer stellte Ansprüche? Wer stellte Fragen? Wer konnte |81| es sich leisten, etwas ganz genau zu wissen? Wer schaute genau hin?
    Man musste den Fensterpappen geradezu dankbar sein und dankbar auch dafür, dass die meisten Spiegel zerschossen waren. Sagte Irmgard bisweilen grimmig. Freilich: In dieser Wohnung gab es noch einen, einen mannshohen sogar, der gebieterisch im Flur stand. Riccarda hasste diesen Spiegel. Sie mochte sich schon lange nicht mehr sehen. Aber Irmgard hatte sie gezwungen, regelmäßig ihr Gewicht zu kontrollieren, um sie zu zwingen, weiter Kohlrübenbrei und Plinsen zu essen, Eierkuchen aus Maismehl und Schrotklöße. Und weil es keine funktionierende Waage mehr gab, hatte Irmgard mit dem Maßband neben dem Spiegel gewartet, während Riccarda sich auszog, um dann nackt vor den Spiegel zu treten. Während die Kälte unaufhaltsam durch ihre Haut drang und die Füße rasch zu schmerzen begannen, hatte Irmgard gemessen: die Oberschenkel, den Hintern, die Taille, die Brust.
    Ihre Mutter hatte darauf bestanden, dass Riccarda ganz nackt war, dass sie sogar mit bloßen Füßen dastand. Wenigstens einmal am Tag muss ich alles im Blick haben!, hatte sie gesagt. Zappel nicht so rum! Hatte Riccarda vorgerechnet, dass sie mehr essen musste. Und weniger trinken. Höchstens einen Viertelliter am Tag, dann setzte das Essen besser an. Und nicht so viel Salz. Herrgott, schon wieder weniger Brust! Was soll nur aus dir werden   … So schimpfte sie, und Riccarda, zitternd, versuchte, nicht in den Spiegel zu schauen. Sie mochte seit einiger Zeit nicht mehr, was sie da sah. Sie mochte es überhaupt nicht.
    Deshalb war es auch kein kleiner Schreck gewesen, als der Junge darauf bestand, dass sie sich auszog am Wannsee. Als sie aus dem Wasser gekommen war, hatte er sie weggeführt, und sie dachte, er wollte ein wenig mit ihr flanieren. Aber er hatte sie in das Unterholz mit den mickernden jungen Birken geführt |82| und ihr dann bedeutet, die nassen Klamotten auszuziehen. Sie hatte erst den Kopf geschüttelt, dann laut vernehmlich Nein! und No! und sogar Mais non! gesagt, aber selbst ihr Französisch hatte Chet nicht beeindruckt, also hatte sie aufgegeben. Und hatte, während sie sich die Sachen abgestreift hatte, an den Spiegel im Flur gedacht und gezittert, obwohl es warm war. Selbst der Wind, der nun über ihre Haut strich, war warm. Der Junge hatte aber nicht Maß genommen, er hatte sie nicht einmal angefasst. Chet sah sie einfach nur an und ließ sich auch anschauen. Dann nahm er ihr die Kleider ab, befestigte sie an niedrig hängenden Ästen und hängte ihr ein dünnes und ausgeblichenes, aber riesiges dunkelblaues Handtuch um. Es waren Sterne eingeprägt und Streifen. Er wickelte sie darin ein.
Stars and Stripes
. Ricky trug die amerikanische Flagge. Sie kicherte nervös, und der Junge lachte ebenfalls und salutierte.
    Na, meine Beste!, sagte der Vater jetzt und meinte Riccarda. Komm her!
    Setz dich!, sagte die Mutter zu Renate. Is’ noch genug da. Sie schaufelte. Der Brei flockte. Irgendjemand hatte versuchsweise einen Schuss Milch hineingegeben. Riccarda verzog das Gesicht. Sie rührte in den braunen Plocken. Der Brei war lauwarm. Nie gab der Herd genug Wärme ab, um die Speisen zu erhitzen. Und nur nachts war auf den Strom so viel Verlass, dass man einen kleineren Topf auf einem umgedrehten Bügeleisen erwärmen konnte. Dies hier war lauwarm. Und grässlich wie immer. Riccarda rührte. Der erste Löffel der Pampe war der schlimmste. Sie schielte zum Vater. Der sah aus, als ob er etwas sagen wollte, aber Irmgard blickte ihn so bestimmt an, dass er schwieg. Er konnte jetzt nichts riskieren. Er war einer, der auf Bewährung dasaß.
    Marie löffelte verbissen. Sie schaute keinen an. Sie fütterte sich selbst, als wäre sie ihr eigenes, ungeliebtes Kind, ein |83| Wechselbalg, den es mit durchzubringen galt. Gelegentlich schniefte sie. Frau Wegener hielt es nicht mehr aus und reichte ein Taschentuch über den Tisch. Marie machte keine Anstalten, es zu nehmen. Das Taschentuch schwebte eine ganze Weile in der Luft, dann griff Herr Wegener danach und steckte es ein. Der Junge lachte blöde und fing

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