Die Geliebte des Trompeters
hätte er etwas gesehen, was nicht für ihn bestimmt war. Im Nu waren die deutschen Zuschauer verschwunden. Kein Zweifel, dachte Chet, die Deutschen schämten sich und versuchten, vor den fremden Soldaten ihr Innerstes zu verbergen, das beschäftigte sie weit mehr als das Nachdenken über das, was sie eben gesehen hatten. Die erste, instinktive Reaktion, als im Kino das Licht wieder angegangen war, bestimmte ihr Verhalten für Jahre: das Gesicht wahren. Keine Gemütsregung zulassen. Sich vor den anderen schützen und so schnell wie möglich im Alltag verschwinden.
Nachts träumte Chet von den entsetzlichen Bildern. Aber seine Bilder waren Filmbilder. Er hatte nichts gesehen und nichts gerochen. Er hatte die ausgemergelten Körper der K Z-Insassen nicht berührt, er hatte niemandem aufgeholfen und niemanden bekämpft. Alle Kameraden, die erst nach Kriegsende gekommen waren, dachten wie er.
Sie hatten Respekt vor denen, die gekämpft und gesiegt hatten, aber noch nicht nach Hause zurückgeschickt worden waren. Sie bewunderten sie, aber sie fürchteten sie auch. Die Männer aus den Fallschirmjägerverbänden oder der 82. Luftlandedivision, die noch immer auf ihre Demobilisierung warteten, verachteten die Neulinge offensichtlich. Hatten keinen Tag gekämpft! Hatten nichts beigetragen! Setzten sich ins gemachte Nest! Das Nest, das war Berlin. Hier war es |98| inzwischen tatsächlich beinahe unmöglich, sich im Krieg zu fühlen. Oder als Besatzer eines feindlichen Landes. Das machte die Sieger wütend. Sie wurden nicht mehr gebraucht. Sie wollten nach Hause. Stattdessen, so kam es ihnen vor, spazierten sie jetzt mit den anderen zwischen den Trümmern herum.
Präsenz zeigen, nannte man das. Vor allem im Osten, den die Russen mit einiger Energie von den westlichen Zonen zu trennen versuchten. Amerikaner und Briten, die sich erst kürzlich zusammengeschlossen hatten, arbeiteten dagegen, mit allen friedlichen Mitteln. Auch mit Musik. Mit der Musik von der Army Band! Hallo, Girls!, sagten die stiernackigen Kämpfer zu ihnen und boten ironisch an, die Instrumentenkoffer zu tragen. Sie langweilten sich. Bei den zahlreichen Festen waren die Musiker trotzdem gern gesehen. Immerhin Unterhaltung. Und die Festtage waren reichlich. Immer gab es bei den vier alliierten Mächten etwas zu feiern. Und bei den Amerikanern am meisten. Als hätten sie sich vorgenommen, es den Deutschen zu zeigen, sie das Feiern wieder zu lehren wie Radio machen und Demokratie. Der wichtigste, der Unabhängigkeitstag am 4. Juli, stand noch bevor. Aber Chet hatte schon den
Memorial Day
Ende Mai mitgemacht, und nun übte die Band für den
Flag Day
. Keine andere Nation der Alliierten ehrte ihre Flagge so begeistert wie die Amerikaner, in keiner anderen Nation war ihre verbindende und einigende Bedeutung so allgegenwärtig – und das, obgleich die Stars and Stripes im Laufe der Geschichte öfters verändert worden war. Fest stand aber, dass die sieben roten und sechs weißen Streifen für jene dreizehn Kolonien stand, die einst die Unabhängigkeit erkämpft hatten, während die Zahl der Sterne auch jene repräsentierte, die anschließend der Union beigetreten waren.
Weiß, so hatte es Chet in der Schule gelernt, stand für Reinheit, |99| Rot für Tapferkeit, Blau für Wachsamkeit und Gerechtigkeit. Chet mochte das, er fand es schön, Farben Werte zuzuordnen, er mochte die einfachen Erklärungen für komplizierte Dinge. Er mochte auch die alte Flagge und ihre Geschichte. Am liebsten war ihm die Fahne aus dem 18. Jahrhundert, als die Sterne noch in einem Kreis angeordnet werden konnten. Der Kreis symbolisierte Ewigkeit, Unvergänglichkeit, aber Chet hatte, als er die Flagge als Zehnjähriger zum ersten Mal bewusst sah, gedacht, dass sie ihn an eine Schlange erinnerte, die sich in den eigenen Schwanz beißt. Ein Tier, das sich selbst genug war. Er hatte zu Hause öfters Schlangen gesehen, Nattern, die sich durchs Korn ringelten, und er fand ihre Kälte und ihren gleichzeitig eleganten und wehrhaften Leib sehr anziehend, und er verabscheute seinen Vater, wenn der mit seinen Kumpeln loszog, um sie zu schießen. Dann verkroch er sich in seinem Zimmer, zog sich die Decke über den Kopf und schrie doch leise auf, bei jedem Schuss, den er hörte. Es gab etwas an den Schlangen, das die Männer nicht ertrugen, deswegen schossen sie auf sie. Unmöglich, sich vorzustellen, dass Schlangen primitiv aufeinander losgingen wie die Bullen auf der Weide oder die Hunde,
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