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Die Geliebte des Trompeters

Titel: Die Geliebte des Trompeters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Jaskulla
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hinaufgesetzt, die vor Vergnügen quietschte, wenn die Männer sie nun in immer schnellerer Fahrt in waghalsigen Kurven durch das Lager kutschierten. Irgendwann bremsten die Männer abrupt – und Riccarda stürzte koppheister in einen großen Haufen Säcke, die in einer Ecke gelagert wurden.
    |95| Einmal war der Vater böse auf Riccarda gewesen, Irmgard hatte vergessen, warum. Da hatte sich die Kleine ganz still ein Brikett aus dem Lager geholt, sich in eine Ecke des Kontors verzogen und begonnen, die Kohle aufzuessen. Sie kaute und lutschte so heftig daran herum, dass das Stück nach einer Weile zu glänzen begann und eine Hälfte aussah wie ein Stück der teuren Eierkohle. Siegfried war erst aufmerksam geworden, als Riccarda heftig zu würgen begann, nach Luft schnappte und schließlich ohnmächtig wurde. Entsetzt hatten er und sein Vorarbeiter das Mädchen, dessen Gesicht kalkweiß und mit Kohle verschmiert war und das heftig die Augen verdrehte, zum Doktor gebracht, und dann hatte eine unangenehme und langwierige Prozedur begonnen, die dazu führte, dass Riccarda den gesamten Mageninhalt und reichlich Galle erbrach. Tagelang hatte sie zu Hause im Bett gelegen, apathisch und stumm und hatte auf Vorwürfe und besorgte Fragen, warum um alles in der Welt sie das getan hätte, immer bloß
Vati
geantwortet. Vati jedoch war mit dieser Art von verzehrender Liebe überfordert gewesen, er war aus dem Krankenzimmer geflohen, kaum, dass er seinen Teil getan hatte, und hatte das kranke Kind seiner Frau überlassen. Was hätte nicht alles passieren können! Siegfried Krampitz fand, dass übertriebene Liebe meistens zu nichts Gutem führte. Alles musste im richtigen Rahmen geschehen. Und genau das war jetzt ihre Chance, dachte Irmgard. Sie brauchten wieder einen Rahmen. Einen Rahmen für dieses aus den Fugen geratene Leben.
    Willste nich mal langsam abwaschen?, sagte Siegfried mehr auffordernd als fragend zu Renate. Doch die schaute ihn an, als spräche er in einer gänzlich unbekannten Sprache. Es würde nicht einfach werden.
     
    |96| Es war Mai. Es wurde Juni. Chet gewöhnte sich an einen militärischen Alltag, der weder eindeutig militärisch noch wirklich zivil war. Morgens, nach dem Frühstück, das sie alle zusammen im großen Speisesaal der Kaserne einnahmen und das aus Haferflocken mit Milch, dicken, belegten Graubrotscheiben, gebratenen Eiern mit Speck und Ketchup bestand, begann das Training. Das Training war für alle gleich: Zunächst eine halbe Stunde lockeres Laufen vom Waldfriedhof Dahlem bis zum Grunewaldsee. Manchmal hatte der Sergeant auf der immer gleichen Strecke ein paar Schikanen eingebaut, Fässer, durch die man hindurchkriechen, improvisierte Hürden, über die man klettern musste. Dann zurück in der Kaserne, das Übliche: Liegestütze und Klappmesser, Rumpfbeugen und Hanteltraining. Die Waffe zerlegen, sie mit Hilfe einer Reinigungsstange und Leinöl putzen, bis der Lauf auch von innen glänzte. Manchmal Schießtraining auf dem Schießplatz. An Seilen, Bäumen, Wänden hochklettern. Unter Stacheldraht durchkriechen. Gutmütiges Ringen miteinander. Man musste aufpassen, dass man nicht an die Falschen geriet. Den verrückten Fernando aus dem Valley, der zur Army gegangen war, weil er sich zu Hause den Verstand aus dem Kopf kokste, den sadistischen, enorm kräftigen Willie oder all die Gestörten, die bei der Eroberung Deutschlands dabei gewesen und Dinge gesehen hatten, die man nicht aushalten konnte.
    Der Junge kannte das Unvorstellbare nur aus Filmen. Sie waren ihnen gezeigt worden wie auch den Deutschen, einmal waren sogar GIs und deutsche Zivilisten gemeinsam in ein Kino geführt worden, um einen Film über die Befreiung der Konzentrationslager Bergen-Belsen und Dachau zu sehen. Chet war schockiert gewesen, er konnte nicht glauben, was er da sah, er wollte fliehen, die Augen schließen, aber die Stimme des Kommentators konfrontierte ihn rücksichtslos mit |97| den Fakten, mit den Zahlen der ermordeten Juden, der massakrierten Gefangenen. Eine unaufhörliche Kette von Orten, von Toten, von schändlichen Taten. Beim Hinausgehen sah Chet Deutsche, die eine Hand vor die Augen hielten, andere, die Lippen zusammengepresst, eilten hastig hinaus, und Chet dachte, dass es nicht gut war, dass sie hier zusammengesessen hatten. Er fühlte sich plötzlich wie ein Eindringling. Die Scham der anderen griff auf ihn über – aber es war ihr Gefühl, es war ihre Schande, und Chet wandte sich unwillkürlich ab, als

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