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Die Geliebte des Trompeters

Titel: Die Geliebte des Trompeters Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Gabriela Jaskulla
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fröhlich machte. Mütter zerrten ihre Kinder vorwärts, junge Mädchen hielten einander bei den Händen. Die Kriegsversehrten beeilten sich, mitzukommen. Manch elende Gestalt stand an den Straßenecken und bettelte. Die Frauen ignorierten sie. Sie wollten jetzt keinen Ernst. Sie wollten keine Erinnerung. Weiter, weiter!
    Am Eingang zum Tiergarten spielte einer auf dem Akkordeon mit rot gefrorenen Fingern. Aus einem Fass dampfte etwas und roch säuerlich: die ersten Versuche, wieder Glühwein herzustellen. Selbst Irmgard ließ sich von der allgemeinen Aufregung anstecken. Ist ja hier wie beim Gefangenenchor von
Nabucco
!, brummte sie zwar, lachte aber doch, war rotnasig, hatte die Hände tief in den Manteltaschen vergraben.
    Die Prachtstraße war abgesperrt, vor der Siegessäule eine Tribüne aufgebaut. Die Menge stoppte. Hier war kein Weiterkommen. Und so sahen die Frauen nicht, wer bei den Ehrenplätzen Aufstellung nahm, welche Ehrenformation antrat, wie der berühmte General Clay das Zeichen zum Beginn der Parade gab. Sie hörten nur die anderen jubeln. Und jubelten mit. Sie sahen, wie die anderen applaudierten, und applaudierten mit. Clay übergab das Kommando an Frank L.   Howley, einen Mann aus New Jersey, den die Army reaktiviert hatte, damit der den Job in Berlin übernahm. Es war wenig bekannt über Howley, der aber als
Russenfresser
galt, und tatsächlich hatten die Russen demonstrativ nur rangniedrige Offiziere als Abordnung geschickt. Aber auch das konnten die Frauen nicht sehen, sie wussten nicht, dass bald härtere Zeiten |215| anbrechen würden, sie sahen nur Uniformen, blitzende Waffen, sogar berittene Einheiten.
    Ricky hielt es nicht länger. Sie drängelte rücksichtslos nach vorn. Steve war von seinem Paradeführer zum Stellvertreter ernannt worden. Er würde deshalb ganz vorne mit dabei sein. Ricky staunte über die Amerikaner. Die Parade wurde nicht etwa vom ranghöchsten Offizier geleitet, sondern von demjenigen, der sie organisiert hatte – und das war derjenige, so hatte es ihr Steve beigebracht, der für den Job am geeignetsten erschien, also einer, der so etwas auf die Beine stellen konnte.
    Seinen Job machen
. Das schien das höchste Ziel dieser Leute zu sein. Ricky, die wie alle Frauen die militärischen Ränge der Wehrmacht gelernt hatte, die die Hakeleien der Offiziere und den Neid der Mannschaften aus den endlosen Erzählungen des Vaters und der Nachbarn kannte, wunderte sich über diese seltsame Armee, die da vor ihnen antrat. Aber es funktionierte. Sie hatten schließlich den Krieg gewonnen!
    Plötzlich wurde es still. Die Leute reckten die Hälse. Und nun ertönte eine Fanfare. Ein einsames Instrument, weit weg, und doch hörte man jeden Ton.
Avant garde
. Ricky kannte das Repertoire der 298th Army Band nicht, sie erkannte nicht die Fanfare, und noch weniger erkannte sie den Spieler. Sie wusste nichts davon, dass ein Trompetenton so unverwechselbar ist wie die menschliche Stimme, genauso individuell. Aber sie spürte, wie sie eine Gänsehaut bekam, wie ihr etwas die Kehle zuschnürte, wie ihr die Tränen in die Augen traten. Chet Baker spielte. Die Kameraden aus der Army Band warteten auf ihren Einsatz. Sie warteten inzwischen neidlos. Sie schafften es sogar, ihm richtig zuzuhören und nicht bloß auf das Ende seines Solos zu warten.
    Eben noch hatte der Junge vor Kälte gezittert, aber nun stand er da ganz ruhig, die Trompete gegen den weißen, eiskalten |216| Himmel gerichtet, und blies hinein. Er spielte gut, obwohl er niemals sehr laut war. Eigentlich nicht laut genug für den Solotrompeter einer Armeeband. Auch war sein Tonumfang eher gering. Viel zu gering für einen Musiker, aus dem etwas werden sollte. Und doch spürten die Musiker um ihn herum, dass Chet sie alle überflügeln würde und dass es nicht mehr lange dauern würde. Aus Chet würde Chet Baker werden. Die Fanfare war der Beginn der Parade, und sie war ein Abschied.
    Ricky wollte besser sehen. Sie setzte die Ellenbogen ein, dass die Leute murrten. Aber sie kam nicht durch. Und so sah sie kaum etwas von den Einheiten, die jetzt vorbeischritten, im Paradeschritt der US Army, die Augen nach links zur Tribüne gerichtet, wo ein nachdenklicher General Clay und ein stolzer Kommandant Howley sie grüßten: die Army zuerst, dann die Air Force und schließlich die Navy. Die Berliner klatschten. Es war, als klatschten sie sich Mut zu. Es war, als wüssten sie, dass sie den im nächsten Jahr brauchen würden.
    Dann würden

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