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Die Geliehene Zeit

Titel: Die Geliehene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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stehen und überlegte, wie man eine Aufgabe dieses Ausmaßes am besten anging.
    Die nahezu sechs Meter lange und fast drei Meter hohe Pinnwand war symptomatisch für die Arbeitsweise von Reverend Wakefield. Unter all den Zetteln, Notizen, Fotos, Kopien, Rechnungen, Quittungen, Vogelfedern, abgerissenen Ecken von Umschlägen mit seltenen Briefmarken, Adreßaufklebern, Schlüsselringen, Postkarten, Gummibändern und anderem Krimskrams war praktisch kein Fleckchen Kork mehr sichtbar.
    Obwohl das Sammelsurium stellenweise zwölf Schichten dick war, hatte der Reverend jederzeit das Detail herausfischen können, das er suchte. Roger vermutete, daß die Anordnung auf einem Prinzip beruhte, das so ausgefeilt war, daß es selbst ein Wissenschaftler der NASA nicht hätte entschlüsseln können.
    Skeptisch ließ er den Blick über die Pinnwand gleiten. Sie bot keinerlei Ansatzpunkt. Versuchsweise griff er nach einer fotokopierten
Liste mit den Tagungsterminen der Generalversammlung, die das Amt des Bischofs versendet hatte. Doch gleich darauf erregte der Anblick des darunterhängenden Drachen seine Aufmerksamkeit. Eine fröhliche Buntstiftzeichnung; aus den geblähten Nüstern drangen kugelrunde Rauchwölkchen, und aus dem aufgerissenen Rachen blies er grüne Flammen.
    ROGER stand in unbeholfenen Druckbuchstaben unten auf der Seite. Undeutlich erinnerte sich der Künstler, warum der Drache grüne Flammen spie: Er fraß nämlich nichts anderes als Spinat. Roger heftete die Liste mit den Tagungsterminen wieder an ihren Platz und wandte sich ab. Der Pinnwand konnte er sich auch später noch widmen.
    Der schwere Eichenschreibtisch mit den etwa vierzig, bis zum Bersten vollgestopften Fächern schien im Vergleich dazu ein Kinderspiel. Seufzend zog sich Roger den zerschlissenen Bürostuhl heran und machte sich daran, Ordnung in all die Papiere zu bringen, von denen sich der Reverend nicht hatte trennen können.
    Einen Stapel für unbezahlte Rechnungen. Einen anderen für offizielle Dokumente wie Kraftfahrzeugschein und Sachverständigengutachten zum Zustand des Hauses. Einen weiteren für historische Notizen und Berichte. Dann einen für Familienerinnerungsstücke. Und mit Abstand den größten für Krimskrams.
    Roger war so in seine Arbeit vertieft, daß er nicht hörte, wie die Tür geöffnet wurde und sich jemand dem Schreibtisch näherte. Plötzlich schwebte eine dampfende Teekanne in sein Blickfeld.
    »Wie?« Blinzelnd blickte er auf.
    »Ich dachte, Sie mögen vielleicht eine Tasse Tee, Mr. Wake... ich meine Roger.« Fiona setzte das Tablett mit Kanne, Tasse und einem Teller Kekse vor ihm ab.
    »Oh, vielen Dank!« Er war wirklich hungrig, und so schenkte er Fiona ein freundliches Lächeln, das ihr die Röte in die runden Wangen trieb. Offenbar ermutigt, hockte sie sich auf die Schreibtischkante und sah zu, wie er zwischen einzelnen Bissen Schokoladenkeks seine Arbeit fortsetzte.
    Da er sich verpflichtet fühlte, ihre Anwesenheit zur Kenntnis zu nehmen, hielt er einen angebissenen Keks hoch. »Wirklich gut«, brummte er.
    »Ja? Ich habe sie selbst gebacken.« Die Röte wurde noch tiefer. Ein hübsches Mädchen, diese Fiona. Klein, rund, mit dunklem,
lockigem Haar und großen, braunen Augen. Roger ertappte sich bei der Frage, ob Brianna Randall kochen konnte. Rasch schüttelte er den Kopf, um derartige Gedanken zu vertreiben.
    Fiona, die diese Geste als Ungläubigkeit interpretierte, beugte sich vor. »Doch, wirklich«, beteuerte sie. »Nach einem Rezept von meiner Oma. Das waren die Lieblingskekse des Reverend.« Ein sanfter Schleier legte sich über ihre Augen. »Sie hat mir alle ihre Kochbücher und so hinterlassen. Ich war doch ihre einzige Enkeltochter.«
    »Das mit Ihrer Großmutter tut mir leid«, sagte Roger ernst. »Es kam sehr plötzlich, nicht wahr?«
    Fiona nickte traurig. »Aye. Tagsüber war sie munter wie ein Fisch im Wasser, und nach dem Abendessen sagte sie plötzlich, sie sei ein wenig müde, und ging zu Bett.« Das Mädchen zuckte die Achseln. »Sie ist eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht.«
    »Nicht die schlechteste Art zu sterben«, meinte Roger. »Das ist ein Trost.« Mrs. Graham war schon eine Institution im Haushalt gewesen, als Roger nach dem Tod seiner Eltern als verschüchterter Fünfjähriger vom Reverend aufgenommen worden war. Die Witwe mittleren Alters, deren Kinder bereits erwachsen waren, ließ Roger in den Genuß ihres unerschöpflichen Vorrats an mütterlicher Zuneigung kommen, wenn er in den

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