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Die Geliehene Zeit

Titel: Die Geliehene Zeit Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Diana Gabaldon
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bemühte, von der Schönheit der flammenden Göttin fand er im Gesicht ihres Vaters keine Spuren.
    Seufzend schloß er das Buch und faltete die Ausschnitte zusammen. Er sollte wirklich mit dem Grübeln aufhören und sich seinen Pflichten widmen, sonst würde er in einem Jahr immer noch hier sitzen.
    Er war schon dabei, die Zeitungsartikel auf einen der Stapel zu legen, als ihm eine Schlagzeile ins Auge stach: »VON FEEN GERAUBT?« fragte sie. Aber noch viel interessanter fand er das Datum über der Schlagzeile: der 6. Mai 1948.
    Vorsichtig, als hielte er eine Bombe in der Hand, legte er die Seite aus den Händen. Dann schloß er die Augen und versuchte, sich wieder an die Unterhaltung mit den Randalls zu erinnern. »In Massachusetts darf man erst mit einundzwanzig Alkohol trinken«, hatte Claire gesagt. »Und meiner Tochter fehlt dazu noch über ein Jahr.« Demnach war sie fast zwanzig. Brianna Randall war fast zwanzig Jahre alt.
    Da Roger nicht so schnell zurückrechnen konnte, stand er auf und blätterte in dem immerwährenden Kalender, den der Reverend an seiner Pinnwand hängen hatte. Als er das Datum gefunden hatte,
blieb er mit wachsbleichem Gesicht stehen, den Finger auf den Kalender gepreßt.
    Claire Randall war nicht nur verwirrt, unterernährt und desorientiert zurückgekehrt - sondern auch schwanger.
     
    Im Laufe der Nacht fand Roger doch noch Schlaf, aber weil er so spät zu Bett gegangen war, erwachte er spät am Vormittag mit verquollenen Augen und bohrenden Kopfschmerzen, die sich weder durch eine kalte Dusche noch durch Fionas Geschwätz am Frühstückstisch vertreiben ließen.
    Weil er sich der Schmerzen immer weniger erwehren konnte, ließ er die Arbeit liegen und brach zu einem Spaziergang auf. Draußen, im leisen Nieselregen, wurde zwar der Schmerz erträglicher, doch auch sein Kopf so klar, daß er wieder über die Erkenntnisse der letzten Nacht zu grübeln begann.
    Brianna wußte von nichts. Das wurde schon aus der Art und Weise deutlich, wie sie über ihren verstorbenen Vater sprach - oder über Frank Randall, von dem sie dachte, er sei ihr Vater. Und Claire wollte offensichtlich nicht, daß sie eingeweiht würde, sonst hätte sie es ihr schon längst erzählt. Es sei denn, die Reise nach Schottland war als Einleitung zu solch einem Geständnis gedacht. Ihr wahrer Vater mußte ein Schotte sein, denn schließlich war Claire in Schottland verschwunden - und auch wieder aufgetaucht. Lebte er noch hier?
    Welch ein verblüffender Gedanke! War Claire mit ihrer Tochter nach Schottland gekommen, um sie ihrem wahren Vater vorzustellen? Skeptisch schüttelte Roger den Kopf. Verdammt riskant, solch ein Vorgehen. Für Brianna eine verwirrende und für Claire eine schmerzliche Erfahrung. Und dem Vater mußte dabei vor Aufregung das Herz in die Hose rutschen. Und Brianna schien mit allen Fasern an Frank Randall zu hängen. Wie mußte sie sich fühlen, wenn sie erfuhr, daß sie mit dem Mann, den sie geliebt und verehrt hatte, überhaupt nicht verwandt war?
    Roger bedauerte alle Beteiligten, einschließlich sich selbst. Er hatte in diesem Stück um keine Rolle gebeten und wünschte sich zurück in den Zustand seliger Unwissenheit, in dem er gestern noch geschwebt hatte. Er mochte Claire Randall gern und fand die Vorstellung, sie könnte Ehebruch begangen haben, schlichtweg geschmacklos. Gleichzeitig verspottete er sich für seine altmodische
Sentimentalität. Wer konnte schon wissen, wie ihr Leben mit Frank Randall ausgesehen hatte? Vielleicht war sie aus gutem Grund mit einem anderen Mann auf und davon gegangen. Aber warum war sie dann zurückgekommen?
    Verschwitzt und verstimmt kehrte Roger zum Pfarrhaus zurück. Hastig zog er im Flur das Jackett aus und ging dann nach oben, um ein Bad zu nehmen. Manchmal fühlte er sich dadurch getröstet, und Trost hatte er jetzt bitter nötig.
    Er ließ die Hand über die Kleiderbügel im Wandschrank gleiten, bis er den Stoff seines abgetragenen weißen Bademantels spürte. Doch nach kurzem Überlegen schob er die Bügel beiseite und wühlte ganz hinten im Wandschrank herum, bis er gefunden hatte, was er suchte.
    Voller Zuneigung blickte er auf den schäbigen alten Hausmantel. Die gelbe Seide des Untergrunds war vor Alter dunkel geworden, doch die hellbunten Pfauen prangten darauf so kühn wie eh und je. Als Zeichen ihrer hochherrschaftlichen Unbekümmertheit schlugen sie ein Rad und blickten den Betrachter aus ihren dunklen Knopfaugen herausfordernd an. Roger hielt sich

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