Die Geliehene Zeit
dem breiten üppigen Mund mit der vollen Unterlippe, der zu leidenschaftlichen Küssen geradezu einlud. All das mußte sie wohl von ihrem Vater haben.
Im großen und ganzen war Roger froh, daß dieser Vater nicht neben ihr saß. Sicherlich hätte er väterlichen Anstoß an den Gedanken genommen, die ihm durch den Kopf gingen und ihm, wie er fürchtete, an der Nasenspitze abzulesen waren.
»Der Tee, was!« rief er herzlich. »Ausgezeichnet! Wunderbar! Sieht lecker aus. Vielen Dank, Fiona! Ich glaube, äh, wir haben alles.«
Ohne auf den unmißverständlichen Hinweis zu achten, nahm Fiona das Kompliment der Gäste mit einem anmutigen Nicken entgegen. Dann deckte sie mit knappen Bewegungen den Tisch, schenkte den Tee ein, reichte den ersten Kuchenteller herum und schien bereit, die Rolle der Dame des Hauses auszufüllen.
»Nehmen Sie doch ein wenig Sahne auf Ihr Hörnchen, Rog... ich meine Mr. Wakefield«, forderte sie ihn auf. Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr sie fort. »Sie sind viel zu dünn. Ich muß Sie erst
mal aufpäppeln.« Dabei warf sie Brianna Randall einen verschwörerischen Blick zu und sagte: »Sie wissen ja, wie die Männer sind. Wenn wir Frauen nicht aufpassen, würden sie glatt verhungern.«
»Welch ein Glück, daß Sie sich um ihn kümmern«, entgegnete Brianna höflich.
Roger holte tief Luft und bewegte seine Finger, bis er den Drang, Fiona zu erdrosseln, überwunden hatte.
»Fiona«, sagte er, »äh, würden Sie mir bitte einen Gefallen tun?«
Bei der Aussicht, ihm zu Diensten zu sein, strahlte sie übers ganze Gesicht. »Aber natürlich, Rog... Mr. Wakefield. Alles, was Sie wollen!«
Roger verspürte einen Anflug von Scham. Doch dann hielt er sich vor, daß es ebenso in ihrem Interesse läge wie in seinem. Wenn sie das Zimmer nicht bald verließe, würde er sich vergessen und etwas tun, was sie beide bedauern könnten.
»Vielen Dank, Fiona. Ich habe bei... bei...« Verzweifelt versuchte er, sich an den Namen des Dorfkrämers zu erinnern - »... bei Mr. Buchan in der High Street Tabak bestellt. Können Sie ihn mir bitte holen? Nach diesem fabelhaften Tee möchte ich gern eine gute Pfeife rauchen.«
Fiona war schon damit beschäftigt, ihre Schürze abzubinden - die rüschen- und spitzenbesetzte, stellte Roger grimmig fest. Als sie die Tür hinter sich zuzog, schloß er dankbar die Augen. Daß er nicht rauchte, war ihm im Augenblick egal. Statt dessen wandte er sich mit einem erleichterten Seufzer seinen Gästen zu.
»Sie haben mich gefragt, ob Sie noch nach den andern Männern auf meiner Liste forschen sollen«, erinnerte ihn Claire. Roger hatte den Eindruck, daß sie über Fionas Aufbruch ebenso erleichtert war wie er. »Nun, wenn es Ihnen nicht zuviel wird, würde ich Sie gern darum bitten.«
»Keineswegs«, erwiderte Roger. »Es ist mir ein Vergnügen.«
Unentschlossen schwebte seine Hand über dem Überangebot auf dem Teewagen, bis sie resolut nach der Karaffe mit dem zwölf Jahre alten Muir Breame Whisky griff. Nach dem Gerangel mit Fiona hatte er sich eine Stärkung verdient.
»Mögen Sie auch einen Schluck?« fragte er seine Gäste. »Oder lieber Tee?« fügte er hinzu, als er den ablehnenden Ausdruck auf Briannas Gesicht bemerkte.
»Tee«, entschied sie erleichtert.
»Du weißt nicht, was du dir entgehen läßt«, erklärte ihre Mutter, die genußvoll an ihrem Whisky schnupperte.
»O doch!« entgegnete Brianna. »Deshalb lasse ich es mir ja auch entgehen.« Sie zuckte die Achseln und blinzelte Roger an.
»In Massachusetts darf man erst mit einundzwanzig offiziell Alkohol trinken«, erklärte Claire, zu Roger gewandt. »Und weil meiner Tochter dazu noch über ein Jahr fehlt, ist sie Whisky nicht gewohnt.«
»Du tust ja gerade so, als wäre es ein Verbrechen, wenn man keinen Whisky mag.« Brianna warf Roger über ihre Teetasse hinweg einen lächelnden Blick zu.
»Wir sind hier in Schottland, meine Gute«, erinnerte er sie ernst. »Und da ist es auf jeden Fall ein Verbrechen.«
»Ach ja? Hoffentlich kein so schweres wie ein Mord.«
Er lachte und verschluckte sich an seinem Whisky. Als er hustend zu Claire hinüberblickte, sah er, daß ihre Lippen ein gezwungenes Lächeln umspielte. Außerdem wirkte sie ausgesprochen blaß. Aber gleich darauf war dieser Moment vorüber, und nach einem kurzen Blinzeln schmunzelte auch sie.
Überrascht stellte Roger fest, wie leicht die Unterhaltung zwischen ihnen dahinplätscherte - sowohl über Banalitäten als auch über Claires
Weitere Kostenlose Bücher