Die Geliehene Zeit
den weichen Stoff an die Nase und sog den Geruch mit geschlossenen Augen ein. Der schwache Duft nach Borkum Riff und Whisky erinnerte ihn stärker an seinen Ziehvater als die Korkwand mit all ihrem Krimskrams.
Wie oft hatte er den tröstlichen Duft mit seinem Hauch von Old Spice eingeatmet, wie oft hatte er das Gesicht in der glatten, weichen Seide vergraben, während der Reverend schützend die rundlichen Arme um ihn legte. Die anderen Kleidungsstücke des alten Herrn hatte er der Wohlfahrt geschenkt, doch von diesem Stück hatte er sich nicht trennen können.
Auf eine innere Eingebung hin schlüpfte er mit nacktem Oberkörper in den Mantel, überrascht von der angenehmen Wärme, die sich auf seiner Haut wie die Liebkosung sanfter Finger anfühlte. Wohlig bewegte er die Schultern, dann schlang er sich den Mantel um den Körper und schloß mit einem lockeren Knoten den Gürtel.
Wachsam darauf bedacht, Fiona nicht in die Fänge zu geraten, schlich er über den Flur zum Badezimmer. Der altehrwürdige Gasdurchlauferhitzer stand am Kopfende der Wanne wie der Wächter einer heiligen Quelle. Eine seiner Jugenderinnerungen bezog sich auf den allwöchentlichen Horror, wenn er versuchte, den Durchlauferhitzer mit dem Gasanzünder zu entfachen, während das Gas
mit einem bedrohlichen Zischen an seinem Ohr vorbeistrich und seine schwitzenden Hände ergebnislos hantierten. Jedesmal hatte er befürchtet, eine Explosion könnte seinem Leben ein plötzliches Ende setzen.
Nach einer Operation seines rätselhaften Innenlebens war der Durchlauferhitzer nun schon seit langem automatisch. Er gurgelte leise, während unten auf dem Gasring hinter dem Metallschild die unsichtbare Flamme knackte und zischte. Roger drehte den Heißwasserhahn bis zum Anschlag auf und gab eine halbe Drehung »kalt« hinzu. Während er darauf wartete, daß die Badewanne vollief, stellte er sich vor den Spiegel und betrachtete sich.
Gar nicht so schlecht, dachte er, nachdem er den Bauch eingezogen und sich zu voller Größe aufgerichtet hatte. Schlank, fest, die Beine lang, aber keine Stelzen. Vielleicht ein bißchen mager um die Schultern? Kritisch runzelte er die Stirn, während er seinen schlanken Körper hin und her drehte.
Er fuhr sich mit den Fingern durch das dichte dunkle Haar, bis es wie ein Rasierpinsel emporstand. Er versuchte sich vorzustellen, wie er mit längerem Haar und einem Bart aussehen würde, der Mode, die seine Studenten trugen. Würde er damit flott oder lediglich mottenzerfressen wirken? Vielleicht auch noch ein Ohrring, wenn er schon mal dabei war, um ihm etwas Piratenhaftes zu verleihen. Roger zog die Brauen zusammen und bleckte die Zähne.
»Grrr«, sagte er zu seinem Spiegelbild.
»Mr. Wakefield?« antwortete dieses.
Roger fuhr so erschreckt auf, daß er sich den Zeh an dem Klauenfuß der altertümlichen Badewanne stieß.
»Autsch!«
»Alles in Ordnung, Mr. Wakefield?« fragte der Spiegel. Gleichzeitig wackelte der Porzellanknauf an der Tür.
»Natürlich!« schnauzte er gereizt zurück, wobei er die Tür anfunkelte. »Gehen Sie, Fiona, ich nehme ein Bad!«
Hinter der Tür ertönte ein Kichern.
»Oh, sogar zweimal am Tag! Sie halten’s aber vornehm! Möchten Sie etwas von dem neuen Badesalz? Es steht im Regal; Sie brauchen sich nur zu bedienen.«
»Nein, danke!« schnaubte er. Da die Wanne inzwischen halb vollgelaufen war, drehte er die Hähne zu. In der sich ausbreitenden tröstlichen Stille sog er den Wasserdampf tief ein. Dann ließ er sich
mit einem leisen Ächzen in das heiße Wasser gleiten und fühlte, wie ihm feiner Schweiß ins Gesicht trat.
»Mr. Wakefield?« Da war die Stimme wieder, zwitschernd wie ein aufdringliches Rotkehlchen.
»Gehen Sie jetzt, Fiona«, zischte er. Er lehnte sich in der Wanne zurück, und das dampfende Wasser umschmeichelte seinen Körper wie die Arme einer Geliebten. »Ich habe hier alles, was ich brauche.«
»Nein, haben Sie nicht.«
»Doch.« Sein Blick schweifte über die beeindruckende Ansammlung von Flaschen und Gläsern auf dem Regal über der Badewanne. »Drei Sorten Shampoo, Haarspülung, Rasiercreme und -klingen, Seife, After Shave, Eau de Cologne, Deodorant. Mir fehlt nichts, Fiona.«
»Und was ist mit Handtüchern?« fragte die Stimme süß.
Nach einem wilden Blick durch das völlig handtuchlose Badezimmer schloß Roger die Augen, biß die Zähne zusammen und zählte langsam bis zehn. Da dies nicht reichte, erhöhte er auf zwanzig. Erst dann fühlte er sich in der
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