Die Geliehene Zeit
erwartete sie, daß Mr. Hawkins’ breite Gestalt anklagend hinter ihr auftauchte. »Wir sind... wir haben... das heißt...«
»Ich möchte nicht Sie besuchen«, entgegnete ich fest, »sondern Ihre Nichte Mary.«
Dieser Name schien ihre Aufregung nur noch zu steigern.
»Sie... aber... Mary? Nein! Ihr... ihr geht es nicht gut!«
»Das habe ich vermutet«, erklärte ich geduldig und hob meinen Korb hoch. »Ich habe ein paar Arzneien für sie mitgebracht.«
»Oh! Aber... aber... sie... Sie... sind doch nicht... Sie...?«
»Schluß mit dem Gewäsch, Frau«, sagte Fergus in seinem besten Schottisch. Mißbilligend nahm er die Anzeichen geistiger Verwirrung zur Kenntnis. »Das Mädchen sagt, die junge Herrin ist oben in ihrem Zimmer.«
»Gut«, sagte ich. »Geh voraus, Fergus.« Ohne eine Einladung abzuwarten, duckte er sich unter dem ausgestreckten Arm, der uns
den Weg versperrte, und verschwand in den düsteren Tiefen des Hauses. Mit einem Schrei stürzte Mrs. Hawkins ihm nach, so daß ich an ihr vorbeischlüpfen konnte.
Vor Marys Zimmer hatte eine kräftige Dienstbotin mit gestreifter Schürze Stellung bezogen, aber sie leistete keinen Widerstand, als ich meine Absichten kundtat. Traurig schüttelte sie den Kopf. »Ich kann nichts für sie tun, Madame. Vielleicht haben Sie mehr Glück.«
Das klang nicht gerade vielversprechend, aber ich hatte keine Wahl. Zumindest schien es unwahrscheinlich, daß ich noch mehr Schaden anrichtete. Also strich ich mein Kleid glatt und öffnete die Tür.
Es war, als beträte ich eine Höhle. Die Fenster waren mit schweren braunen Samtvorhängen verhüllt, die fast kein Tageslicht durchließen, und das bißchen Licht, das hereindrang, wurde von dem drückenden Rauch des Kaminfeuers geschluckt.
Ich atmete tief ein und mußte sofort husten. Mary lag im Bett und rührte sich nicht - eine bemitleidenswert kleine, zusammengekauerte Gestalt unter einer dicken Daunendecke. Gewiß war die Wirkung der Droge inzwischen abgeklungen, und nach dem Spektakel unten in der Halle schlief sie bestimmt nicht. Vielleicht stellte sie sich schlafend, um den Tiraden ihrer Tante zu entgehen. An ihrer Stelle hätte ich das auch getan.
Ich drehte mich um und machte der unglückseligen Mrs. Hawkins die Tür vor der Nase zu. Dann ging ich zum Bett.
»Ich bin’s«, sagte ich. »Warum kommst du nicht heraus, bevor du da drin erstickst?«
Plötzlich kam das Bettzeug in Bewegung. Mary tauchte aus den Decken auf und umarmte mich stürmisch.
»Claire! O Claire! Gott sei Dank! Ich dachte, ich sehe dich n-nie wieder! Mein Onkel sagte, du seist im Gefängnis! Er s-sagte, du...«
»Schon gut!« Es gelang mir, mich ihrem Griff zu entwinden und sie weit genug von mir zu halten, um sie ansehen zu können. Ihr Gesicht war rot, und weil sie sich so lange unter den Decken versteckt hatte, sah sie verschwitzt und aufgelöst aus, aber sonst schien es ihr gutzugehen. Ihre braunen Augen waren groß und klar: keine Spur mehr von der Wirkung des Opiums. Zwar wirkte sie unruhig und erregt, aber der Schlaf, gepaart mit der Widerstandskraft
der Jugend, hatte sie körperlich weitgehend wiederhergestellt. Mehr Sorgen machte mir das, was man nicht sah.
»Nein, ich bin nicht im Gefängnis«, wehrte ich ihre ungeduldigen Fragen ab. »Offensichtlich nicht, obwohl dein Onkel nach besten Kräften versucht hat, mich hinter Schloß und Riegel zu bringen.«
»Aber, ich h-hab’ ihm doch gesagt...«, begann sie, kam aber ins Stottern und senkte den Blick. »Zumindest hab’ ich v-v-versucht, es ihm zu sagen, aber er... aber ich...«
»Keine Sorge«, beruhigte ich sie. »Er ist so aufgebracht, daß er dir sowieso nicht zuhören würde, egal, was und wie du es sagst. Wichtig bist jetzt nur du. Wie geht es dir?« Ich strich ihr das schwere, dunkle Haar aus der Stirn und betrachtete sie forschend.
»Gut«, sagte sie und schluckte. »Ich habe... ein bißchen geblutet, aber es hat aufgehört.« Sie errötete noch tiefer, sah mir aber in die-Augen. »Ich... es ist... wund. G-geht es wieder weg?«
»Ja, natürlich«, sagte ich freundlich. »Ich habe dir Kräuter mitgebracht. Sie müssen in Wasser aufgekocht werden, und wenn der Absud etwas abgekühlt ist, kannst du ihn für Umschläge oder für ein Sitzbad verwenden. Das hilft.« Ich nahm die Kräuterpäckchen aus meinem Ridikül und legte sie auf den Nachttisch.
Sie nickte und biß sich auf die Lippen. Offensichtlich wollte sie noch mehr sagen; ihre angeborene Schüchternheit kämpfte
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