Die Geliehene Zeit
Anblick in mir ausgelöst hatte. Sein Griff um meinen Arm wurde fester, seine Lippen schmaler. Ich sah, wie er angestrengt nachdachte und Möglichkeiten abhakte.
»Wenn es nicht Ihr Leichnam war, den Sir Fletchers Männer aus dem Verlies zogen, wer war der Tote dann?« fragte ich, denn ich wollte mir zunutze machen, daß er vorübergehend die Fassung verloren hatte. Ein Augenzeuge hatte mir geschildert, daß man nach dem wilden Durchzug der Viehherde, die Jamies Flucht aus eben jenem Verlies getarnt hatte, »eine Puppe in blutigen Fetzen« - vermutlich Randall - gefunden hatte.
Randall lächelte mißvergnügt. Wenn er ebenso nervös war wie ich, dann zeigte er es nicht. Er atmete ein wenig schneller als gewöhnlich, und die Falten um Augen und Mund waren tiefer, als ich sie in Erinnerung hatte, aber er schnappte nicht nach Luft wie
ein Fisch auf dem Trockenen. Leider hatte ich weniger Selbstbeherrschung. Ich pumpte möglichst viel Sauerstoff in meine Lungen und versuchte, durch die Nase zu atmen.
»Es war mein Bursche, Marley. Aber wenn Sie auf meine Fragen nicht eingehen, warum sollte ich dann die Ihren beantworten?« Er musterte mich von Kopf bis Fuß und taxierte meine Erscheinung: Seidenkleid, Haarschmuck, Juwelen, unbeschuhte Füße.
»Wohl mit einem Franzosen verheiratet?« erkundigte er sich. »Ich habe Sie immer für eine französische Spionin gehalten. Hoffentlich hält Ihr neuer Gatte Sie besser im Zaum als...«
Die Worte erstarben ihm auf den Lippen, als er aufblickte, um zu sehen, wer soeben den Flur hinter mir betrat. Wenn ich ihn aus der Ruhe hatte bringen wollen, so wurde mir dieser Wunsch jetzt erfüllt. Kein Hamlet hat angesichts des Geistes ein überzeugenderes Entsetzen zustande gebracht als jenes, das sich nun auf den aristokratischen Zügen vor mir malte. Die Hand, die immer noch meinen Arm hielt, krallte sich tief in mein Fleisch, und ich spürte den Schock, der ihn durchzuckte wie ein elektrischer Schlag.
Ich wußte, wen er hinter mir erblickte, und wagte nicht, mich umzudrehen. Auf dem Korridor herrschte vollkommene Stille. Ganz langsam befreite ich meinen Arm aus Randalls Griff, und seine Hand fiel kraftlos herunter. Hinter mir war kein Laut zu hören, obwohl jetzt aus dem Raum am Ende des Flures Stimmen drangen. Ich betete, daß die Tür sich nicht öffnen würde, und überlegte verzweifelt, ob Jamie bewaffnet war.
Ich war unfähig, einen klaren Gedanken zu fassen, bis endlich das beruhigende Bild seines Schwertes vor mir aufleuchtete, das an der Garderobe hing. Aber er hatte natürlich noch seinen Dolch bei sich und das kleine Messer, das er gewohnheitsmäßig im Strumpf trug. Außerdem war ich mir vollkommen sicher, daß er einen Gegner notfalls auch mit bloßen Händen angreifen würde. Und wenn man meine gegenwärtige Position zwischen den beiden Männern unbedingt als Notfall sehen wollte... Ich schluckte und drehte mich langsam um.
Er stand reglos da, kaum einen Meter hinter mir. Neben ihm stand ein hoher Fensterflügel offen, in dem die Schatten der Zypressen spielten wie Wellen auf einem versunkenen Felsen. Auch Jamie zeigte nicht mehr Regungen als ein Felsen. Was in ihm vorging, konnte man nur ahnen; seine Augen waren groß und klar
wie Glas, als wäre die Seele hinter diesem Spiegel längst davongeflogen.
Er sagte nichts, streckte mir aber die Hand entgegen. Es dauerte einen Moment, bis ich die Geistesgegenwart aufbrachte, sie zu ergreifen. Sie war kalt und hart, und ich hielt sie umklammert, als ginge es um das liebe Leben.
Er zog mich eng an sich, nahm meinen Arm und führte mich weg, ohne ein Wort zu sagen oder seinen Gesichtsausdruck zu verändern. Als wir das Ende des Flures erreichten, brach Randall das Schweigen.
»Jamie«, sagte er. Seine heisere Stimme klang halb ungläubig, halb flehend.
Jamie blieb stehen und drehte sich zu ihm um. Randall war kalkweiß, nur auf den Wangenknochen glühten kleine rote Flekken. Er hatte seine Perücke abgenommen und ballte die Fäuste; sein dunkles Haar klebte schweißnaß an den Schläfen.
»Nein.« Jamies Stimme klang gefaßt, beinahe ausdruckslos. Aufblickend sah ich, daß sein Gesicht ebenso reglos blieb, nur die Schlagader an seinem Hals pulsierte heftig, und die kleine dreiekkige Narbe über seinem Kragen hatte sich tiefrot verfärbt.
»Ich bin der Herr von Broch Tuarach«, sagte er leise. »Und künftig werden Sie mich nur noch in aller Form ansprechen - bis Sie mit meinem Schwert auf der Brust um Ihr Leben betteln.
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