Die Geliehene Zeit
Unverfrorenheit. Ich wandte mich an den Diener, der dastand, als hätte er einen Stock verschluckt, und uns mißtrauisch musterte.
»Ja«, sagte ich mit aller Arroganz, die mir zu Gebote stand. »Wollen Sie bitte Mr. Randall mitteilen, daß er Besuch hat.«
»Ich bedaure, aber das ist nicht möglich«, erklärte der Lakai mit kühler Höflichkeit.
»Und warum nicht?«
»Weil Mr. Alexander Randall nicht mehr im Dienste Seiner Hoheit steht, Madame. Er wurde entlassen.« Der Lakai musterte Mary kurz, dann ließ er sich herab zu sagen: »Soviel ich weiß, ist Monsieur Randall auf dem Weg nach England.«
»Nein! Er kann nicht abgereist sein, er kann einfach nicht!««
Mary schoß auf die Tür zu und rannte fast Jamie um, der soeben hereinkam. Sie schnappte überrascht nach Luft, und er starrte sie verblüfft an.
»Was...«, begann er, ehe er mich hinter ihr entdeckte. »Oh, da bist du ja, Sassenach. Ich habe mich entschuldigt, weil ich dich suchen wollte - Seine Hoheit hat mir gerade gesagt, daß Alex Randall...«
»Ich weiß«, fiel ich ihm ins Wort. »Er ist weg.«
»Nein!« stöhnte Mary. »Nein!« Sie lief zur Tür und war verschwunden, bevor wir sie aufhalten konnten.
»Verdammte Närrin!« Ich streifte meine Schuhe ab, raffte meine Röcke und rannte ihr nach. In Strümpfen war ich viel schneller als sie in ihren hochhackigen Schuhen. Vielleicht konnte ich sie einholen, bevor sie jemand anderem in die Arme lief und ertappt wurde. Diesen Skandal hätte ich gerne verhindert.
Ich sah gerade noch, wie ihre Röcke um die Ecke in einen angrenzenden Flur verschwanden, und nahm die Verfolgung auf. Hier war der Boden mit einem Teppich bedeckt. Wenn ich mich nicht beeilte, würde ich bald ihre Spur verlieren, da ich ihre Schritte nicht mehr hören konnte. Ich senkte den Kopf, stürmte um eine Ecke und stieß mit voller Wucht mit einem Mann zusammen, der mir entgegenkam.
»Hoppla!« rief er verblüfft, als ich gegen ihn prallte, und hielt mich an beiden Armen fest, damit wir nicht gemeinsam zu Boden gingen.
»Tut mir leid!«, rief ich atemlos. »Ich dachte, Sie seien - oh , Jesus H. Roosevelt Christ!«
Mein erster Eindruck - daß ich auf Alexander Randall gestoßen war - verflüchtigte sich im Bruchteil jener Sekunde, den ich brauchte, um ihm in die Augen zu blicken. Der fein geschnittene Mund hätte Alex gehören können, abgesehen von den tiefen Falten, die ihn umgaben. Aber ich kannte nur einen Mann, der derart kalte Augen besaß.
Der Schock war so groß, daß mir paradoxerweise alles völlig normal vorkam. Ich verspürte den Impuls, den Mann mit einer Entschuldigung abzuwimmeln und einfach weiterzulaufen. Doch unter dem Einfluß des Adrenalinstoßes, der meinen Körper durchfuhr, war diese Absicht rasch vergessen.
Er hingegen hatte sich mittlerweile gefaßt und seine vorübergehend erschütterte Gelassenheit wiedergefunden.
»Ich empfinde ähnlich wie Sie, Madam, auch wenn ich dafür nicht dieselben Worte wählen würde.« Noch immer hielt er meine
Ellbogen umklammert. Jetzt schob er mich ein Stück von sich fort und blinzelte, um mein Gesicht sehen zu können. Als er mich erkannte, wurde er schreckensbleich. »Zum Teufel, Sie sind’s!« rief er.
»Ich dachte, Sie seien tot!« Mit aller Kraft versuchte ich, mich aus dem eisernen Griff Jonathan Randalls zu befreien.
Er ließ einen meiner Arme los, um sich die Magengegend zu reiben, und musterte mich kalt. Sein schmales, feingeschnittenes Gesicht wirkte braungebrannt und gesund. Äußerlich war ihm nicht anzusehen, daß vor fünf Monaten eine Herde Rinder auf ihm herumgetrampelt war. Er hatte nicht einmal einen Hufabdruck an der Stirn.
»Wieder teile ich Ihre Gefühle, Madam. Ich stand unter demselben Eindruck, was Ihren Gesundheitszustand betrifft. Vielleicht sind Sie ja doch eine Hexe. Wie haben Sie es angestellt? Sich in eine Wölfin verwandelt?« Die Abneigung, die aus seinen Zügen sprach, war nicht frei von abergläubischer Ehrfurcht. Denn wenn man jemanden in einer kalten Winternacht zu einem Rudel Wölfe hinausstößt, sollte man doch meinen, daß er sich ohne Umstände auffressen läßt. Wie meine verschwitzten Hände und das Hämmern meines Herzens bezeugten, wirkte die unverhoffte Wiederauferstehung eines Totgeglaubten höchst beunruhigend. Vermutlich fühlte auch er sich ein wenig unwohl.
»Das würden Sie wohl gern wissen?« Der Drang, ihn zu ärgern - diese eisige Ruhe zu durchbrechen -, gewann die Oberhand im Gefühlschaos, das sein
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