Die Geliehene Zeit
gleiche Schicksal ereilte - ohne die Gnade einer tödlichen Kugel. Ihre Asche lag jetzt, von Krieg und Unwetter unangetastet, unter der Grasnarbe des Schlachtfelds von Culloden.
Vor fast dreißig Jahren hatten Frank und ich Culloden auf unserer Hochzeitsreise besucht. Nun, nach Franks Tod, war ich mit meiner Tochter nach Schottland gekommen. Zwar sollte sie Culloden mit eigenen Augen sehen, doch mich hätte keine Macht der Erde bewegen können, noch einmal meinen Fuß auf dieses blutgetränkte Moor zu setzen.
Um den Schein zu wahren, blieb ich an diesem Tag wohl besser im Bett. Immerhin hatte mich diese überraschende Indisposition
davor bewahrt, Brianna und Roger auf ihrem Ausflug begleiten zu müssen. Wenn ich aufstünde und ein Mittagessen bestellte, könnte Mrs. Thomas später eine falsche Bemerkung entschlüpfen. Ich inspizierte meine Schublade und fand dort drei Schokoriegel und einen Krimi. Mit etwas Glück würde mich das über den Tag retten.
Der Krimi war nicht schlecht, doch der Wind draußen hatte eine hypnotische und das warme Bett eine einschläfernde Wirkung. So sank ich in einen friedlichen Schlummer und hörte den weichen Klang schottischer Stimmen und träumte von Männern in Kilts, die um ein Feuer in der Heide saßen.
4
Culloden
»Was für ein gemeines kleines Schweinsgesicht!« Brianna starrte angewidert auf die knapp einssechzig große Puppe im Rotrock, die drohend am Rand der Halle des Besucherzentrums von Culloden stand. Die gepuderte Perücke war angriffslustig in die tiefe Stirn und über die rotbemalten Hamsterbäckchen geschoben.
»Ja, schlank war er nicht gerade«, stimmte Roger ihr amüsiert zu. »Dafür aber ein höllisch guter Feldherr, ganz anders als sein eleganter Vetter dort drüben.« Er zeigte auf die größere Figur von Charles Edward Stuart an der gegenüberliegenden Seite des Besucherzentrums, der unter dem blauen Samthut mit der weißen Kokarde durchgeistigt in die Ferne blickte und den Herzog von Cumberland blasiert mit Mißachtung strafte.
»Man nannte ihn auch Billy, den Schlächter«, erklärte Roger mit Blick auf den Herzog. »Und das mit gutem Grund. Abgesehen davon, was er angerichtet hat...« - Roger wies auf das weite, frühlingsgrüne Moor vor der Tür, dem der graue Himmel einen dunklen Anstrich verlieh -, »haben die Soldaten des Herzogs von Cumberland die schlimmste Schreckensherrschaft errichtet, die das Hochland jemals erlebt hat. Sie verfolgten die Überlebenden der Schlacht bis in die Berge und plünderten und verbrannten, was ihnen in die Hände fiel. Frauen und Kinder mußten verhungern, und Männer wurden sofort erschossen - ganz gleich, ob sie für Charles gekämpft hatten oder nicht. Ein Zeitgenosse schrieb über den Herzog: >Er schuf eine Wüste und nannte es Frieden.‹ Ich fürchte, der Herzog von Cumberland ist hierzulande immer noch ausgesprochen unbeliebt.«
Damit hatte er recht. Der Kurator des Besuchermuseums, ein Freund von Roger, hatte berichtet, daß die Puppe des Bonnie Prince mit Ehrfurcht und Respekt behandelt wurde, während dem Rock
des Herzogs von Cumberland immer wieder Knöpfe abhanden kamen und die Figur selbst Opfer mehr als eines groben Scherzes geworden war.
»Als mein Freund eines Morgens hereinkam und das Licht einschaltete, ragte aus dem Bauch seiner Gnaden ein echter Hochlanddolch«, erzählte Roger. »Er hat einen gewaltigen Schreck bekommen.«
»Das kann ich mir vorstellen«, sagte Brianna, während sie den Herzog mit großen Augen betrachtete. »Nehmen die Leute das immer noch so ernst?«
»Aye. Die Schotten vergessen nicht so schnell, und vergeben tun sie erst recht nicht.«
»Wirklich?« Sie blickte ihn neugierig an. »Sind Sie Schotte, Roger? Wakefield klingt eigentlich nicht schottisch, aber in der Art, wie Sie über den Herzog von Cumberland sprechen, schwingt so etwas mit...« Ein halbes Lächeln lag auf ihren Lippen, und obwohl er nicht recht wußte, ob sie sich über ihn lustig machte, gab er ihr eine ernsthafte Antwort.
»Oh, natürlich bin ich Schotte. Wakefield ist nicht mein Geburtsname. Ich habe ihn vom Reverend bekommen, als er mich adoptiert hat. Er war der Onkel meiner Mutter, und als meine Eltern im Krieg umkamen, hat er mich bei sich aufgenommen. Aber eigentlich heiße ich MacKenzie. Was den Herzog von Cumberland betrifft«, er deutete auf das Bleiglasfenster, durch das man auf die Gedenksteine des Schlachtfelds blickte, »steht dort ein Stein, auf dem der Name meines Clans eingemeißelt ist
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