Die Geliehene Zeit
und vernahm das tröstliche Knistern des Umschlags von Scot-Search. Zwar hatte ich mich mit Franks Arbeit nicht sonderlich beschäftigt, doch die Firma mit den fünf, sechs Historikern, die sich auf schottische Ahnenforschung spezialisiert hatten, war mir bekannt. Bei ihnen konnte man sicher sein, daß sie die Abstammung des Kunden nicht einfach auf Robert Bruce zurückführten und es dabei bewenden ließen.
Diskret und zuverlässig wie immer hatten sie sich mit Roger Wakefield beschäftigt, und jetzt kannte ich seine Vorfahren über sieben, acht Generationen hinweg. Damit wußte ich allerdings noch nicht, aus welchem Holz er geschnitzt war. Das würde ich erst mit der Zeit erfahren.
Ich bezahlte das Taxi und eilte über den regennassen Weg zum Haus des Reverend. Unter der überdachten Veranda schüttelte ich mir das Wasser vom Mantel, bevor die Tür auf mein Klingeln hin geöffnet wurde.
Fiona strahlte, als sie mich sah. Sie trug Jeans und eine gestärkte Schürze, von der ein Duft nach Möbelpolitur und Frischgebackenem aufstieg.
»Ach, Mrs. Randall!« rief sie. »Sie wollen doch nicht etwa zu mir?«
»Doch, Fiona«, entgegnete ich, »ich möchte mit Ihnen über Ihre Großmutter sprechen.«
»Ist wirklich alles in Ordnung mit dir, Mama? Ich könnte Roger anrufen und ihn bitten, daß wir den Ausflug verschieben, wenn du mich brauchst.« Ratlos und besorgt stand Brianna an der Tür unseres Pensionszimmers. Mit Stiefeln, Jeans und Pullover war sie zweckmäßig gekleidet, doch sie trug auch das orangeblaue Seidenhalstuch, das Frank ihr vor zwei Jahren, kurz vor seinem Tod, aus Paris mitgebracht hatte.
»Orange, die Farbe deiner Augen, meine Kleine«, hatte er grinsend gesagt, als er ihr das Tuch um die Schultern legte. Das, »meine Kleine«, war scherzhaft gemeint, denn bereits mit fünfzehn war Brianna Frank mit seinen bescheidenen Einssechzig über den Kopf gewachsen. So hatte er sie gerufen, als sie ein Baby war, und die Zärtlichkeit, die sich mit diesem Namen verband, wurde wieder wach, als er sich streckte und ihr einen Stups auf die Nasenspitze gab.
Der Schal - jedenfalls sein Blau - hatte nicht nur die Farbe ihrer Augen, sondern auch die der schottischen Seen, des Sommerhimmels und der dunstverhangenen Bergspitzen in der Ferne. Da ich wußte, wie teuer er ihr war, mußte ich mein Urteil über ihr Interesse an Roger Wakefield um ein paar Grad korrigieren.
»Nein, mir fehlt nichts«, versicherte ich ihr. Ich wies auf meinen Nachttisch mit der Teekanne unter einer gehäkelten Haube, die den Tee ebenso verläßlich warmhielt, wie der danebenstehende Toastständer den Toast austrocknen ließ. »Mrs. Thomas hat mir das Frühstück heraufgebracht, und vielleicht kann ich später ein bißchen davon essen.« Ich hoffte, daß sie nicht das Knurren meines Magens hörte, der diese Aussicht mit ungläubigem Entsetzen zur Kenntnis nahm.
»Nun gut.« Widerstrebend wandte sie sich zur Tür. »Aber nach Culloden drehen wir gleich wieder um.«
»Meinetwegen braucht ihr euch nicht zu beeilen!« rief ich ihr nach.
Ich wartete, bis ich die Haustür hinter ihr ins Schloß fallen hörte. Erst als ich sie sicher unterwegs wußte, holte ich die große Tafel Schokolade aus der Nachttischschublade, die ich am Abend zuvor dort versteckt hatte.
Nachdem ich die guten Beziehungen zu meinem Magen wiederhergestellt hatte, ließ ich mich in die Kissen zurücksinken und sah zu, wie sich der Himmel vor meinem Fenster allmählich grau bezog. Der auffrischende Wind schlug die Spitze eines knospenden Lindenzweiges unablässig gegen mein Fenster. Obwohl im Zimmer dank der dröhnenden Zentralheizung eine angenehme Wärme herrschte, fröstelte ich. Auf dem Schlachtfeld von Culloden würde es kalt sein.
Allerdings vielleicht nicht so kalt wie im April des Jahres 1746, als Bonnie Prince Charlie seine Männer ins Moor geführt hatte, um dem Schneeregen und dem donnernden Kanonenfeuer der Engländer zu trotzen. In Berichten heißt es, an jenem Tag sei es bitterkalt gewesen, und die verwundeten Hochlandschotten seien mit den Gefallenen auf einen Haufen geworfen worden, wo sie getränkt von Blut und Regen hatten ausharren müssen, der Gnade der englischen Sieger ausgeliefert. Und der Herzog von Cumberland, der Oberbefehlshaber des englischen Heeres, hatte kein Erbarmen gezeigt.
Die Toten wurden aufgeschichtet wie Klafterholz und verbrannt, um den Ausbruch von Seuchen zu verhindern, und die Geschichte weiß, daß viele der Verwundeten das
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