Die Geliehene Zeit
zu erleichtern. Danach schien es ihm ein wenig besser zu gehen, doch als ich mein primitives Stethoskop an seine eingesunkene Brust legte, hörte ich sein Herz so unregelmäßig schlagen, daß ich jeden Augenblick mit seinem Aussetzen rechnen mußte.
Mary hielt unterdessen Alex’ Hand, und er blickte sie unverwandt an, als wollte er sich ihre Züge auf ewig einprägen. Es erschien beinahe zudringlich, sich mit den beiden im selben Raum aufzuhalten.
Da öffnete sich die Tür, und Jack Randall stand auf der Schwelle. Verständnislos sah er mich und Mary an, doch dann erkannte er Jamie, und seine Züge versteinerten. Jamie sah ihm in die Augen, wandte sich dann um und wies mit einem Nicken auf das Bett.
Als Jack Randall das hagere Gesicht seines Bruders erblickte, durchquerte er rasch den Raum und sank neben dessen Lager auf die Knie.
»Alex!« rief er. »Mein Gott, Alex...«
»Es ist gut«, erwiderte Alex. Er umfaßte Jonathans Gesicht mit
den Händen, lächelte ihn an und versuchte, ihn zu beruhigen. »Ist schon gut, Johnny«, sagte er.
Ich nahm Mary am Ellbogen und zog sie sanft beiseite. Ganz gleich, was man Jack Randall vorzuwerfen hatte, es stand ihm zu, ungestört einige letzte Worte mit seinem Bruder zu wechseln. Wie erstarrt vor Verzweiflung, folgte sie mir zum anderen Ende der Kammer, wo ich sie auf einen Hocker setzte. Ich tränkte mein Taschentuch mit Wasser und gab es ihr, damit sie sich die Augen betupfte, doch sie saß nur reglos da und hielt das Tuch in den Händen. Seufzend nahm ich es wieder an mich, wischte ihr das Gesicht ab und ordnete ihr Haar, so gut ich konnte.
Vom Bett her hörte ich ein ersticktes Schluchzen. Jonathan hatte sein Gesicht im Schoß seines Bruders vergraben, während Alex seinen Kopf streichelte.
»John«, sagte er. »Du weißt, daß ich diese Bitte nicht leichtfertig ausspreche. Aber um der Liebe willen, die du für mich empfindest...« Als er hustete, färbten sich seine Wangen vor Anstrengung rot.
Ich merkte, daß Jamie sich noch mehr versteifte. Auch Jonathan Randall erstarrte, als spürte er Jamies brennenden Blick in seinem Rücken, aber er sah nicht auf.
»Alex...«, Jonathan legte seinem jüngeren Bruder die Hand auf die Schulter, als wollte er so den Husten mildern, »sei unbesorgt, Alex. Du weißt, daß du mich nicht zu bitten brauchst. Ich tue, was immer du wünschst. Ist es... das Mädchen?« Er blickte in Marys Richtung, brachte es aber nicht über sich, sie anzusehen.
Alex nickte, immer noch hustend.
»Sei unbesorgt«, sagte Jonathan. »Es soll ihr an nichts fehlen. Du kannst ganz ruhig sein.«
Jamie sah mich mit großen Augen an. Ich schüttelte langsam den Kopf. Ein Schauer lief mir über den Rücken. Alles fügte sich nun ins Bild: Marys blühende Erscheinung trotz ihres Elends, ihr Einverständnis, den reichen Kaufmann aus London zu heiraten.
»Es geht nicht um Geld«, erklärte ich. »Sie erwartet ein Kind. Er will...« Ich räusperte mich. »Ich glaube, er möchte, daß Sie Mary heiraten.«
Die Lider immer noch gesenkt, nickte Alex. Er seufzte tief, dann sah er mit glänzenden Augen in das verblüffte, verständnislose Gesicht seines Bruders.
»ja«, sagte er. »John... Johnny, du mußt an meiner Statt für sie sorgen. Ich will... daß mein Kind den Namen Randall trägt. Du kannst... ihr eine Stellung in der Welt geben... viel besser, als ich es vermag.« Sehnsüchtig streckte er die Hand aus; Mary ergriff sie und drückte sie innig an ihre Brust. Alex lächelte sie zärtlich an und streichelte die glänzenden dunklen Locken, die ihr ins Gesicht fielen.
»Mary, ich wünsche... du weißt, meine Liebe, ich wünsche mir so vieles. Und es gibt so vieles, was ich bereue. Aber die Liebe zwischen uns kann ich nicht bereuen. Nachdem ich diese Freude erfahren habe, könnte ich zufrieden sterben, wenn ich nicht fürchtete, daß du in Schande leben mußt.«
»Das ist mir gleich!« rief Mary leidenschaftlich. »Von mir aus kann es alle Welt erfahren!«
»Aber mir ist es nicht gleich«, sagte Alex leise. Er streckte eine Hand nach seinem Bruder aus, der sie zögernd ergriff. Dann führte er beide zusammen, legte Marys in Randalls Hand. Marys war reglos, und Jack Randalls steif wie ein toter Fisch, doch Alex schloß seine Hände fest um die beiden.
»Ich gebe euch einander, meine Lieben«, sagte er leise. Beiden stand bei diesem Vorschlag das Entsetzen ins Gesicht geschrieben, übertönt vom überwältigenden Kummer über den drohenden
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