Die Geliehene Zeit
und Nase gebunden und hielten das Gesicht von der Bahre abgewandt, während sie ihre Last über die rissigen Planken manövrierten. Nachdem die zwei die wie gebannt dastehende Menge passiert hatten, verschwanden sie in einem nahegelegenen Lagerhaus.
Kurzentschlossen wandte ich mich um und steuerte den hinteren Landungssteg der Arianna an.
»Mach dir keine Sorgen!« rief ich Jamie über die Schulter zu. »Sollten es die Pocken sein, dann bin ich davor gefeit.« Als die
Seeleute meine Worte hörten, blieb einer stehen und glotzte mich mit aufgerissenem Mund an. Aber ich lächelte nur und eilte vorbei.
Die Menschenmenge war wie erstarrt, und niemand drängelte mehr. So war es nicht sonderlich schwer, mich durch die murmelnden Seeleute zu schieben, von denen viele die Stirn runzelten oder ungläubig staunten, als ich mich an ihnen vorbeischlängelte. Das Lagerhaus stand leer; Bündel und Fässer suchte man in der riesigen Halle vergebens, doch der unverwechselbare Geruch nach frischem Holz, geräuchertem Fleisch und Fisch hatte sich noch nicht verflüchtigt.
Die beiden Männer hatten den Kranken hastig,neben der Tür auf einem Haufen alter Strohverpackungen abgelegt. Jetzt suchten sie das Weite.
Vorsichtig näherte ich mich dem Kranken und blieb ein paar Schritte vor ihm stehen. Sein fiebriges Gesicht war dunkelrot und mit weißen Pusteln übersät. Unruhig und stöhnend warf er den Kopf hin und her, und sein rissiger Mund stand offen, als ob er Durst hätte.
»Holen Sie mir Wasser«, sagte ich zu einem der Matrosen neben mir. Der kleine, muskulöse Kerl, dessen geteerter Bart unten in dekorativen Spitzen auslief, starrte mich an, als wäre ich ein sprechender Fisch.
Ich drehte ihm ungeduldig den Rücken zu und kniete mich neben den Kranken, um sein schmutzstarrendes Hemd zu öffnen. Er stank zum Himmel. Vermutlich war er von Anfang an nicht sonderlich sauber gewesen, und da seine Kameraden vor einer Berührung zurückschreckten, hatte man ihn in seinem eigenen Schmutz liegenlassen. Seine Arme waren noch fast frei von Ausschlag, doch auf Brust und Bauch reihte sich eine Pustel an die andere, und seine Haut war glühend heiß.
Während ich den Mann untersuchte, hatten Jamie und Jared die Lagerhalle betreten. Sie wurden von einem kleinen Mann im goldbetreßten Rock und zwei weiteren Männern begleitet. Dem Gewand nach zu urteilen, gehörte der eine dem Adel oder wohlhabenden Bürgertum an. Der andere Mann war hochgewachsen und schlank, und seine Gesichtsfarbe wies ihn als Seefahrer aus. Vermutlich war er der Kapitän des von der Seuche befallenen Schiffes.
Meine Vermutung erwies sich als richtig. In den unzivilisierten Ländern, in die ich meinen Onkel Lamb, einen berühmten Archäologen,
bereits als kleines Mädchen begleiten durfte, war ich dieser Krankheit unzählige Male begegnet.
»Ich fürchte, es sind die Pocken«, erklärte ich.
Der Kapitän der Patagonia stöhnte wütend auf, trat mit verzerrtem Gesicht auf mich zu und hob die Hand, als wollte er mich schlagen.
»Nein!« rief er. »Dummes Weib! Salope! Femme sans cervelle ! Wollen Sie mich ruinieren?«
Das letzte Wort ging in einem Röcheln unter, weil sich Jamies Hand um seine Gurgel schloß. Die andere Hand packte die Hemdbrust und zog den Kapitän am Stoff in die Höhe, bis er auf Zehenspitzen stand.
»Ich sähe es lieber, wenn Sie meine Frau mit Respekt behandelten, Monsieur«, erklärte Jamie relativ gelassen. Dem purpurfarben anlaufenden Kapitän gelang ein kurzes, ruckartiges Nicken, woraufhin Jamie ihn fallen ließ. Keuchend trat der Mann einen Schritt zurück und brachte sich hinter dem Rücken seines Begleiters in Sicherheit, während er sich die Kehle rieb.
Der Hafenmeister beugte sich vorsichtig über den Kranken, wobei er sich eine große silberne Duftkugel vor die Nase hielt. Vor der Tür verebbte der Lärm, denn die Menge machte die Tür für eine weitere Leinwandbahre frei.
Plötzlich setzte sich der Patient auf. Damit überraschte er den kleinen Beamten so sehr, daß dieser fast gestolpert wäre. Wild blickte sich der Kranke im Lagerhaus um, bevor er die Augäpfel verdrehte und zurück aufs Stroh fiel, als hätte man ihn mit einer Streitaxt niedergestreckt. Dem war zwar nicht so, aber das Ergebnis war ungefähr das gleiche.
»Er ist tot«, bemerkte ich überflüssigerweise.
Der Hafenmeister, der seine Würde mitsamt seiner Duftkugel zurückgewonnen hatte, trat näher und betrachtete den Mann prüfend. Dann richtete er sich auf
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