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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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imitierten Armani komme ich mir etwas komisch vor, aber dann dreht sie sich um, strahlt mich an und betrachtet mich anscheinend äußerst erfreut. Schließlich greift sie zum Reißverschluss ihres Overalls und zieht ihn ganz herunter. Er rutscht von ihren Schultern, sie schiebt ihn ganz hinab, bis ein glänzendes Kleid mit vielen Falten zum Vorschein kommt, das in einer eleganten Kurve von ihren bleichen Schultern bis zu den wohlgeformten Waden fällt. Irgendwie – zweifellos dank einer weiblichen Magie – hat sie es geschafft, sich ein Seidenkleid zu besorgen. Gonzo, der Herr aller Dinge, hat mir einen Zivilanzug organisiert, aber nicht einmal er hätte etwas so Wundervolles hinbekommen. Leah hat es geschafft, wie eine Oscargewinnerin aufzutreten. Sie windet sich ein wenig, die Falten glätten sich, und dann steigt sie barfuß aus dem Overall und küsst mich. Gleich darauf löst sie sich schon wieder von mir und stößt in der beginnenden Abenddämmerung einen lauten Jubelschrei aus. Eine jubelnde Frau in einem Abendkleid ist eine Frau, wegen der man verrückt werden könnte.
    Das Dinner – zu zweit bei Kerzenschein im Maison Gonzo – dauert bis ein Uhr morgens. Es ist eigentlich nicht die echte italienische Küche, sondern eine ziemlich gewagte Mischung aus Asien und Südeuropa, angefeuchtet mit einem weinähnlichen Getränk, das wir bei einem Freund von Rao Tsur gekauft haben. Er stellt es aus Mango her. Wir wechseln Blicke, unsere Finger berühren sich, wenn ich ihr das Wasser reiche. Es ist fast unerträglich. Dann tanzen wir. Annabel (die ich jetzt Annie nenne) singt Jazz, Gonzo begleitet sie mit einem Blatt Papier und einem Kamm. Der große Jim Hepsobah schlägt den Rhythmus, und wir alle sitzen in einer hundert Meter großen, wie mit Stahl geschützten Sicherheitszone, weil Eagle mit ihrer optischen Ausrüstung und dem beeindruckenden Gewehr aufpasst. Allerdings versichert mir Gonzo, als er uns zu unserem Zimmer führt, dass Sally ihr Nachtsichtgerät nicht auf uns richten wird. Jetzt beginnt unsere traute Zweisamkeit. Er öffnet die Tür eines prinzlichen Gemachs und umarmt mich noch einmal, ehe er verschwindet, um die Aufklärungsmission zu erledigen, die diese Verabredung ermöglicht hat. Es gibt zwei Betten, aber Leah lässt mir keine Zeit für höfliche Ideen: Leidenschaftlich umarmen wir uns. Mehr müssen Sie darüber nicht wissen. Irgendwann schlafen wir ein, umhüllt von Moschusduft und Geißblatt.
     
    Stiefeltritte auf Stein, die sich eilig nähern. Gonzo kommt schnell und aus beruflichen Gründen. Ich wache sofort auf, weil ich sogar postkoital und nachdem wir uns eine Weile nicht gesehen haben, genau erkenne, was diese eiligen Schritte zu bedeuten haben. Als er das Bett erreicht, stehe ich schon daneben. Er wirft mir zwei Bündel zu. Leah wacht ebenfalls sofort auf, weil auch Krankenschwestern etwas von Krisen verstehen. Ich schüttele die Bündel, Gonzo rennt sofort wieder hinaus. Dann erst wird mir klar, dass er einen kompletten ABC-Anzug getragen hat und dass auch wir offenbar solche Schutzanzüge anlegen sollen. Das heißt, es sieht ziemlich übel aus. Es bedeutet, dass sie oder wir ABC-Waffen einsetzen, und da wir keine biochemischen Waffen haben (wie ich genau weiß, besitzen wir viel schrecklichere Dinge), können es nur die anderen sein. Damit haben sie einen sehr großen Fehler gemacht, denn jetzt wird diese Theaterbühne zum Testgebiet für Professor Dereks Baby. Das ist eine schreckliche Vorstellung, die ich gern entsetzlich fände, aber das muss noch warten, denn im Augenblick bin ich dabei, Leah mit den Reißverschlüssen ihres ABC-Anzugs zu helfen und das Namensschild festzukleben, während sie das Gleiche für mich tut. Dann trotten, schlurfen oder rennen wir aus dem Paradies heraus und zum Konvoi zurück. Der Anzug riecht nach den Achselhöhlen anderer Leute, nach Latex, Kunststoff und meiner eigenen Angst. Ein bisschen auch noch nach Leahs und meinem Körper.
    »Chemisch«, sagt Gonzo. »Beruht auf Sarin, fünf Kilometer. Wind?«
    Eagle meldet »dreißig daneben«, was bedeutet, dass das Gas vermutlich an uns vorbeiwehen wird, weil der Wind um dreißig Grad von der geraden Linie zwischen dem Ursprungsort und uns abweicht. Dann sagt ein Schweinehund:
    »Zweiter Kontakt!« Es ist Gonzo. Die Gaswolke weht auf breiter Front und könnte uns auch noch mit dreißig Grad Abweichung treffen. Wir testen die Versiegelung unserer ABC-Anzüge, dann überprüft noch einmal jeder seine

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