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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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und Atmosphäre daran gebunden und fühle mich sehr, sehr klein.
    Angst ist nicht rational. Einen Augenblick später renne ich aus Leibeskräften und gerate in Panik. Ich fürchte mich vor allem, wovor ich jemals Angst hatte. Ich fürchte, sie ziehen mich für schreckliche Verbrechen zur Rechenschaft, die ich nie begangen habe oder die ich vielleicht doch begangen habe. Dann bin ich ein Ausgestoßener, ein Paria. Sogar der alte Lubitsch wird sich kopfschüttelnd und erschüttert von mir abwenden. Ich fürchte, Elisabeth wird mich verachten, mich verlassen oder mich sogar angreifen. Ich werde nicht wissen, wie ich sie aufhalten soll, ohne sie zu töten, und dann werde ich ein Mörder sein. Ich habe Angst zu stürzen, Angst vor dem Feuer, vor Folter und Monstern, vor Spinnenplagen, wilden Hunden, Krebs und dem Ende der Welt (vor dem richtigen Ende, nach dem es keine Fortsetzung mehr gibt) und vor allem anderen, das ich mir jemals in den finsteren Stunden zwischen zwei und vier Uhr morgens vorgestellt habe, wenn unvernünftige, unglaubliche – geradezu wandelnde – Albträume einen massiven Körper und große Kraft gewinnen.
    Ich überhole Elisabeth, fasse sie an der Hand und zerre sie mit, springe und eile über die Dächer. Sie ruft, ich solle anhalten, ich solle stehen bleiben, aber ich halte erst an, als wir da sind. Ich stürze durch die offene Tür in den Taubenschlag und packe. Wir können nicht bleiben, dürfen nicht innehalten, jetzt nicht und niemals wieder, bis es erledigt ist. Die Furcht ist dem blanken Entsetzen gewichen. Das Tier in mir ist erwacht und erkennt das Ding, das mein Feind ist, und dieses Ding ist anders als ich. Es ist das Antlitz meines Feindes.
    Solche Geschöpfe gibt es auch im Meer. Die Portugiesische Galeere ist ein Individuum, aber auch eine Kolonie. Sie ist ein treibender Sack voller Gas und besteht aus Millionen kleiner Polypen, die vier verschiedenen Arten angehören. Einige kümmern sich um die Verdauung, einige stechen, einige dienen der Fortpflanzung, einige sorgen dafür, dass die anderen nicht auf den Meeresgrund sinken. Einmal traf ich eine Matrosin, eine Frau aus Redyard, die von einer Portugiesischen Galeere verletzt worden war. Sie sagte, es sei gewesen, als habe man ihr mit glühendem Draht die Haut abgeschürft. Sie habe geschrien und Salzwasser geschluckt. Aber das Schlimmste sei es gewesen, sich in den Nesselfäden der Qualle zu verfangen, gegen sie zu stoßen und sich keuchend immer tiefer zu verwickeln, sie sogar zu schlucken, eingewickelt und umhüllt von etwas, das fremd und schrecklich war, das nicht einmal Augen besaß und dennoch wusste, wo sie sich befand.
    Der Gassack war höchstens so groß wie ihr Kopf. Er konnte sie nicht einfach verschlucken – aber er versuchte es, o ja. Und wenn sie untergegangen wäre, dann wäre er mit ihr gesunken. Ihr Angreifer hätte sie sich langsam, Stück um Stück einverleibt. Sie hatte Schwielen auf den Armen und am Hals, flammende Narben wie von Peitschenschlägen oder Verbrennungen, und sie schonte eine Hand. Die Ärzte sagten, es sei ein Wunder, dass sie überlebt habe, und sie müsse das Herz eines Riesen besitzen. Sie sprach, als rauchte sie beim Atmen eine Zigarette, denn auch ihr Kehlkopf war von den Narben verunstaltet. Als sie die Frau aus dem Wasser zogen, kam das Ding mit, blaugrau und widerlich, halb flüssig. Auf dem trockenen Land konnte es sich nicht mehr bewegen, denn es hatte keine Muskeln. Sie wickelten die Frau aus. Sie wand sich in Krämpfen auf dem Deck, wollte aber nicht, dass die anderen das Tier zurückwarfen. Sie wollte es behalten, und als sie sich Wochen später erholt hatte, verbrannte sie es in ihrem Hinterhof und übergab sich zwei Tage lang fast pausenlos. Sie trank nicht; denn der Alkohol, so sagte sie, gebe ihr Träume ein, in denen Polypenarme sie umfingen. Wenn sie schreiend erwachte, legte ihr Mann ihr die dicken, trockenen Hände auf die Schultern und streichelte sanft ihre Narben, bis die Abscheu nachließ und sie sich wieder entspannte.
    So ist Jorgmund. Es ist ein Wesen, das aus vielen Einzelwesen besteht. Es denkt nicht, sondern existiert nur, reagiert und wächst. Das ist alles. Die Leute, die für die Firma arbeiten, sind wie die Polypen, weder ganz Individuen noch völlig gesichtslos. Sie tragen das Monster in ihrem Geist und sehen nicht das Ganze. Sie stellen sich ihm zeitweise zur Verfügung und tauchen in den Körper des Untiers ein, wenn sie es vorziehen, nicht menschlich zu sein.

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