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Die gelöschte Welt

Die gelöschte Welt

Titel: Die gelöschte Welt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nick Harkaway
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blicke hinein.
    Am Schreibtisch sitzt ein riesiger Mann. Ich erkenne ihn nicht sofort, weil er still sitzt. Der einsame Monitor beleuchtet ihn, ein bleiches blaues Schimmern, das lange Schatten auf sein Gesicht zeichnet. Wann immer ich ihn zuvor gesehen habe, sprach er mit dem ganzen Körper und setzte sich mit ganzer Kraft ein. Jetzt hängt er vollkommen schlaff auf dem Stuhl in diesem öden Kasten. Seine Augen sind geöffnet, aber er starrt ins Leere. Zuerst scheint es so, als sei er tot. Wenn dem so ist, dann muss die Leichenstarre schlagartig eingetreten sein. Ohne Bolzenschneider werden sie ihn nie aus dem Stuhl befreien können (das schmutzige Geheimnis der Bestatter). Andererseits müsste sein Körper bei den Muskeln, die er hat, wesentlich stärker verzerrt sein. Er müsste die Gliedmaßen anziehen wie eine Spinne im Regen. Das tut er aber nicht. Nein, eher wirkt es so, als schliefe er. Ich beuge mich vor und bemerke, wie sich sein Brustkorb langsam hebt und senkt. Humbert Pistill ist nicht tot. Er ist nur abgeschaltet. So ist er, wenn er nicht der Boss ist. Wenn er keine Aufgabe hat. Humbert Pistill ist ein Typ-A-Bürotrottel, und so sieht er aus, wenn es nichts zu tun gibt.
    Ich muss an Robert Crabtree und die Karten und Grafiken in der Einsatzleitung denken, an die geheime Akte und an Humbert Pistills leere Augen. Und jetzt verstehe ich es. Endlich, im kalten Schein des Bildschirms, erkenne ich das Antlitz meines Feindes.
     

16 Furcht und Meeresbiologie •Wie in alten Zeiten • Alles geht schief
     
    Die Angst kommt in vielen Gestalten daher. Sie kann einen abrupt und mit Zuckungen überfallen – wie ein elektrischer Schlag. Oder sie kommt wie eine Fahne kalter Nachtluft, die uns im Bett erreicht, obwohl doch alle Fenster und Türen geschlossen sind. Sie kann in Gestalt eines vertrauten Schrittes erscheinen, den wir zur falschen Zeit am falschen Ort vernehmen, oder auch als fremder Laut in vertrauter Umgebung. Jede Angst steht aber mit irgendetwas in Verbindung, wenn sie uns in der Nacht flüsternd umweht, unsere Haut berührt, uns unversehens das Haar aus der Stirn weht und sich zurückzieht, sobald man wagt, die Augen zu öffnen. Die Angst ist heimtückisch. Sie sucht sich einen guten Ausgangspunkt und wartet still ab. Wenn man sich ihr stellt, ist sie klein und schwach und blickt uns so lange schüchtern entgegen, bis man sich fragt, warum man sich auch nur eine Sekunde lang davon hat beeindrucken lassen. Sobald wir ihr den Rücken kehren, wächst sie heran, wirft gigantische Schatten, flackert in den Augenwinkeln und schleicht sich über die knarrenden Dielenbretter an. Sie bläst sich auf und platzt schließlich, ihre Fetzen fliegen bis in die hintersten Winkel unserer Gedanken, wo sie aber weiterwachsen, bis wir überschwemmt werden und untergehen.
    Ich empfinde keine Angst, als ich Humbert Pistill anstarre. Er sitzt direkt vor mir und bemerkt mich nicht. Es ist, als könnte ich den Wolf beobachten, der durch den Wald schleicht: Ich weiß, dass er dort ist, aber er ist nur ein Tier und wird mich nicht angreifen. Gut. Ich husche hinaus, eile den Flur hinunter und lasse mich von Elisabeths Klopfen zum Gitter leiten. Auch als wir aufs Dach klettern und auf dem Weg zurückkehren, den wir gekommen sind, habe ich keine Angst. Ich fürchte mich nicht im Mondlicht, als wir uns mit der Winde Meter um Meter wieder hochziehen und uns von Pistill und seinem leeren Blick entfernen.
    Dann auf einmal sind wir über dem Jorgmund-Gebäude mit seinem Schlangensymbol in albernem Neon, und ich begehe einen Fehler. Ich werde nämlich schneller. Ich bin ungeduldig, denn je länger wir hier auf dem Präsentierteller sitzen, desto gefährlicher wird es. Bei einer Entdeckung müssen wir mit schlimmen Konsequenzen rechnen – es ist sinnlos, das Risiko noch zu vergrößern. So trotte ich schneller. Er hat mich gesehen, er wird Männer schicken. Sie werden uns folgen und Elisabeth schnappen, und das wird dann meine Schuld sein. Inzwischen renne ich. Elisabeth ist vor mir, aber sie werden sie schnappen und auslöschen. Alles wird meine Schuld sein. Danach werden sie auch mich holen und mir schreckliche Dinge antun, ich werde sterben und endgültig entfernt werden, vernichtet nach so kurzer Zeit, die ich leben durfte. Über mir spannt sich der Himmel, aber einen Moment lang ist er ein Abgrund, in den ich stürzen werde. Unglaublich tief ist er, ich schaue nicht hinauf, sondern hinab, bin mit dünnen Fäden der Schwerkraft

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