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Die Geometrie der Wolken

Die Geometrie der Wolken

Titel: Die Geometrie der Wolken Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Giles Foden
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Handgelenk stauchte.
    »Wenn es eng wird, ist er manchmal etwas aufgeregt«, sagte der Mann.
    »Was ist das?«, fragte ich verwirrt und stemmte mich gegen den Zug der Leine.
    »Das ... ist Lev«, erwiderte er. »Kurz für Leviathan. Wir testen die Effektivität von Seelöwen beim Bewachen von Hafenanlagen gegen Angriffe. Gib ihm mal eben einen Schlag, Julius.«
    Der andere Mann drückte einen Knopf auf dem Funksender. Der Zügel in meiner Hand erschlaffte. Sehr kurz darauf und näher bei uns, als ich erwartet hatte, stieß ein bärtiges Gesicht aus dem Wasser.
    »Wenn da unten eine Mine ist, dann findet er sie auch«, erklärte der Mann mit den Zügeln. »Ich bin übrigens Geoffrey Pyke, Experimentelle Abteilung der Streitkräfte. Das hier ist mein Freund Julius. Er ist der jüngste Professor in Cambridge. Er erforscht Blut. Und der hier ist Lev. Komm her!«
    In Anbetracht der Geheimhaltungsstufe seiner Abteilung fand ich es seltsam, dass Pyke sich mir so offenherzig vorgestellt hatte, aber er war eben ein sehr unkonventioneller, bewusst unorthodoxer Mann.
    Er rief den Seelöwen noch einmal und machte ein Handzeichen. Lev wurde im Wasser unter uns unruhig. Pyke gab das Signal noch einmal.
    »Und Sie sind ...?«, fragte er, ohne mich anzusehen.
    »Henry Meadows. Met Office.«
    »Vom Met, was? Ja, irgendjemand hatte gesagt, dass Sie vielleicht kommen würden.«
    Der Seelöwe rutschte auf die breite Treppe an der Seite des Anlegers und fing an, sich Stufe für Stufe mit der Schwanzflosse nach oben zu arbeiten.
    »Gradus ad Parnassum«, sagte Pyke und hielt einen Hering hoch.
    Das Tier trug ein Geschirr, hinter dem sich ein schreckliches Gewirr von Zügeln herzog. Möwen fingen an, über dem Hering und dem Sandwich zu kreisen.
    »Wir müssen das mit den Zügeln unbedingt in den Griff bekommen«, sagte der Mann, der Julius hieß.
    »Bald brauchen wir keine mehr«, erwiderte Pyke. Er wandte sich mir zu. »Meerestiere sind viel intelligenter als wir oft glauben, Mr Meadows. Besonders die Flossenfüßer. Und die Delphine natürlich.«
    Lev erreichte das obere Ende der Steintreppe. Pyke gab ihm einen Fisch. Der Seelöwe lag uns zu Füßen, sah uns beim Kauen mit schwarzen, müde wirkenden Augen an und schlug mit der Schwanzflosse auf die Steine, was ihn zufrieden wirken ließ. Sein dickes Fell war voller glitzernder Wassertropfen. Er hatte außerordentlich lange Ohrläppchen, mit denen er aussah, als hätte er eine Tibet-Mütze auf.
    »Womit können wir Ihnen helfen?«, setzte Pyke fort. »Ich sage >wir<, dabei bin ich hier im Moment der Einzige von der Experimentellen Abteilung. Julius hilft mir nur ein paar Tage aus. Aber wenn Sie ein bestimmtes Problem haben ...«Er fing an, die Zügel vom Geschirr zu lösen. »Entdeckungen, was, Lev, mein Junge? Darum geht es uns. So ist zumindest der Plan.«
    »Entdeckungen lassen sich nicht planen«, sagte der kahlrasierte Professor mit nur halb gespielter Missbilligung. »Sie zeigen sich generell immer dort, wo man sie nicht erwartet.« Er hatte einen Akzent. Ich fand später heraus, dass er mit Nachnamen Brecher hieß. Er war einer der deutschen Wissenschaftler, viele von ihnen Juden, die vor den Nazis geflohen waren.
    »Das mag sein, Julius. Doch wir sollten uns lieber dringenderen Angelegenheiten widmen, zum Beispiel wie wir unserem Freund vom Met Office helfen können. Woran arbeiten Sie?«
    Ich erzählte ihnen ein wenig von meiner Arbeit in der Strömungslehre und für das Met Office und erwähnte nebenbei Rymans Methode, Differentialrechnung auf die physikalischen Größen des Wetters anzuwenden. Pyke hatte schon davon gehört. Dann fügte Brecher hinzu, man könne noch viel über biologische Systeme lernen, wenn man sie ähnlich mathematisch betrachte. »In all diesen Fachgebieten besteht eine ständige Bewegung zwischen Identifikation und Differenzierung, während das System sich noch seine eigenen Regeln sucht. Der Kontext des Systems selbst ist Teil davon. Denken Sie nur an die Beziehung zwischen dem Blut in einer Kapillare und dem Gewebe in seiner Umgebung.«
    In den späteren Jahren meiner Bekanntschaft mit Brecher - wir spielten oft Billard im Baron of Beef in Cambridge - sollte ich solche Aussagen als typisch erkennen. Von all den brillanten Männern, die ich in jenem seltsamen Kriegswinter kennenlernte, hatte er die größte Begabung, seine Ideen mit philosophischer Schlüssigkeit auszudrücken. Aber am Ende ging es bei Brecher doch immer nur ums Blut. Ich weiß nicht,

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