Die Geometrie der Wolken
wahrscheinlich, damit es nicht für eine Angriffswaffe gehalten wurde.
»Verwechseln sie Zufälliges nicht mit Geplantem«, rief er durch den Lärm des Motors, als das Flugzeug noch einmal über uns hinwegflog. »Weil wir einen Feind haben, kommen wir schnell auf den Gedanken, dass er genau an dieser Stelle in der Luft aufgetaucht ist, um uns anzugreifen; dabei ist es genauso wahrscheinlich, dass er nur zufällig hier vorbeigeflogen ist.«
Ich war erstaunt, dass er zu so einem Zeitpunkt solchen Unfug reden konnte. »Sollen wir nicht lieber in Deckung gehen?«, erwiderte ich geduckt vor dem hallenden Lärm des Flugzeugs.
Doch Ryman stand stocksteif, seine Silhouette das perfekte Ziel. Da ich nicht feige wirken wollte, auch wenn ich mich so fühlte, stand ich auf und stellte mich neben ihn. Wir warteten darauf, dass das Flugzeug am Ende seiner Bahn wieder eine Kurve flog. Es hatte aber andere Pläne und setzte seinen Weg in die Ferne fort.
»Brauchen wir nicht«, sagte Ryman, der das Kreuz aus Tragflächen und Heck beobachtete. »Es verschwindet.«
Er hatte recht. Das Brummen wurde leiser, und das Flugzeug setzte seinen Weg fort, bis es mit dem Horizont verschmolz.
Erst als das Geräusch der Maschine verschwunden war, sprach ich wieder. »Gewöhnliches ist gewöhnlich. Seltenes ist selten. Wie gesagt habe ich dieses Flugzeug schon zweimal gesehen. Ein deutsches Flugzeug über Kilmun ist selten. Das legt den Schluss nahe, dass es aus einem besonderen Grund hier ist und nicht zufällig.«
Ryman schüttelte den Kopf, bückte sich und hob das Gewehr auf. Er lud es wieder mit Metallkugeln. »Sie zeigen ein ganz normales menschliches Verhalten - Sie unterschätzen den Zufall.«
»Das ist kein Zufall mehr!«, protestierte ich frustriert. »Das war heute das dritte Mal. Die Home Guard ist schon alarmiert worden. Wir sollten jemanden kommen lassen, der es abschießt.«
»Damit will ich nichts zu tun haben.«
Ich konnte es nicht begreifen, dass sich jemand an solchen Ideen festklammerte, während alliierte Truppen starben. »Sehen Sie es denn nicht als Ihre Pflicht, für Ihr Land zu kämpfen?«
»Ganz im Gegenteil. Meine Pflicht ist es, dafür zu sorgen, dass die Kämpfe aufhören. Deshalb bin ich aber kein Feigling. Im Ersten Weltkrieg war ich in der Quäker-Sanitätereinheit, wissen Sie. Bei uns gab es keine Feiglinge.«
»Ich habe nicht gesagt, dass Sie ein Feigling sind«, stammelte ich und war mir plötzlich unsicher.
Einen Moment lang hörte er auf, Kugeln zu zählen. »Ich kann Ihnen aber versichern, dass ich Angst hatte. Es war die furchterregendste Erfahrung meines Lebens.«
»Was haben Sie in der Einheit gemacht?«
»Unsere Aufgabe war es, die Schwerverletzten vom
poste de secours
in den vorderen Gräben zum nächsten Krankenhaus zu bringen. Ich werde nie den Gestank von verbranntem Fleisch vergessen oder die Schreie der armen Männer, wenn wir durch ein Schlagloch fuhren. Der Verkehr auf den Straßen hinter den Gräben war völlig chaotisch. Militärwagen, Lastwagen, Krankenwagen wie unserer, Panzer, auch Pferdekutschen und Verwundete, die durch den Matsch stapften. Bei einem Bombenangriff habe ich mal einen Mann mit amputiertem Bein überfahren. Er hatte eine Krücke und so einen ... Stumpf. Der Verband hatte sich abgewickelt und lag in einer Pfütze ...«
Sichtlich verstört nahm er die Brille ab und rieb sich die Augen. »Ich hoffte fast, selbst ein Bein zu verlieren. Dann hätte ich mit reinem Gewissen nach Hause fahren können. Ich konnte einfach keine zerbombten und verbrannten Dinge mehr sehen. Dieser verdammte Krieg! Nach einer Zeit geschah gar nichts mehr - es wurden nur noch Opfer angehäuft. Es ging anscheinend nur noch aus Trägheit weiter; die ursprünglichen Gründe waren zwar nicht vergessen, aber in den Hintergrund gerückt. Es hätte schon viel früher Frieden geben können, wenn die Entscheidungsträger dazu bereit gewesen wären und nicht weitergemacht hätten, nur um behaupten zu können, sie hätten gewonnen ...«
Er hielt inne und sah zu Boden, als wollte er eine ferne Szene heraufbeschwören, nicht aus der Erinnerung, sondern aus der Hölle.
»Manchmal, wenn ich die Totengasse entlangfuhr, wie wir sie nannten, musste ich um die Leichen von Wachposten und Pferden herumfahren, die ich auf dem Hinweg noch lebendig gesehen hatte. Ich war sowieso ein schlechter Fahrer, weil ich immer meinen Traum sah und nicht den Verkehr.«
»Ihren Traum?«
»Das System. Meine Theorie der
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