Die geprügelte Generation
Sollte es vielleicht auch. Weil es einfach eine Situation unterbrechen sollte, die unerträglich geworden war. Mich hat das jedes Mal auch erschreckt, nicht in dem Sinne von: Ich muss mir die Hand abhacken, aber doch im Sinne von: Mensch musste das sein? Wie kommen wir aus der Situation jetzt raus? Wie kriegen wir das wieder geflickt? Ich bin dann nicht im Büßerhemd rumgelaufen, sondern habe danach oftmals wirklich lange Gespräche mit meiner Frau geführt und eben auch mit dem jeweils betroffenen Kind.«
6. Kapitel
ALSLITERATURVENTIL
Aufschreiben, Rausschreien, Kundtun
»Wann die Prügelstrafen begonnen haben, daran kann ich mich nicht erinnern, aber damals gehörten sie wie die Schikanen mit dem Essen und den sauberen Kleidern zu den unabwendbaren Gegebenheiten des Lebens wie Winter und Sommer und Regen, man konnte ihnen nicht entkommen, es gab immer etwas, wofür man züchtigungswürdig war«, lässt die österreichische Schriftstellerin Anna Mitgutsch in ihrem Buch »Die Züchtigung« ihre Protagonistin Marie sagen. »Ob nach Ausflügen in den Wald zum Blumenpflücken, weil die Kleider Grasflecken hatten, die Knie aufgeschunden waren. Je größer die Wunde war, desto größer die Panik, desto heftiger der Zorn und die Schläge.« Marie, der Romanfigur, blieb das Schmerzgebrüll im Hals stecken, als die Mutter sie packte und wahllos ins Gesicht schlug, bis das Kleid blutig war von ihrer aufgerissenen Lippe. »Mit einem Tuch über dem Mund wurde ich ins Bett gejagt.« Später sagte der Hausarzt: »Die Wunde hätte genäht werden sollen«. Doch darum hat sich damals niemand geschert.
Geschlagene Kinder haben versucht, das Erlebte literarisch zu verarbeiten. Eine ganze Autorengeneration hat sich vor allem an den Vätern literarisch abgearbeitet. Zorn ist dabei rausgekommen, schonungslos ehrlich und entlarvend für die Elterngeneration. Als sich 1971 der zeitweilige Lebensgefährte von Gudrun Ensslin und Vater des gemeinsamen Sohnes, Bernward Vesper, umbrachte, fand sich in seinem Nachlass ein Romanfragment. Später wurde es unter dem Titel »Die Reise« veröffentlicht. Ein Kultbuch jener Jahre. Darin schildert der Sohn des Reichsarbeitsdichters Will Vesper den Umgang seines Vaters mit ihm. So den Tag, als der kleine Bernward seinen Grießbrei einfach nicht herunterbekam. Allein bei dessen Anblick würgte und beinahe kotzte. Erwurde daraufhin, mitsamt dem Grießbrei, auf sein Zimmer geschickt, hangelte sich aus dem Fenster runter in den Garten, vergrub dort das ekelige Essen. Sein Ungehorsam flog auf und führte dazu, dass sein Vater ihn zur Rede stellte und anbrüllte.
»Ich hörte nicht mehr hin, ich fühlte nichts mehr, ich sah, wie er zum Bücherregal ging, wo über den Kunstbänden und Geschichtswerken der Siebenstriem lag. Er stürzte sich auf mich, legte mich über die harte, hölzerne Lehne seines Sofas, drückte mir mit seiner großen Hand den Kopf herunter und schlug auf mich ein. Es brannte höllisch (ich fühlte nichts), ich fühlte mich hilflos (Tränen liefen aus meinen Augen über die herunterhängende Stirn, ich schrie nicht)«, schreibt Vesper.
Der Frankfurter Autor Rudolf Westenberger hat im Kursbuch im Juni 1998 unter der Überschrift: »Du hast es immer nur gut gemeint« eine erschütternde »Grabrede« auf seine Mutter gehalten. Eine schonungslose Abrechnung mit einer Mutter, von der er zwar wusste, dass sie ihn über alles geliebt hat, deren Liebe für ihn aber immer nur »Folter und Qual« war. Die ihm nie zugestand, ein eigener Mensch zu sein. Die seine Seele »in Schach gehalten und jegliche Rührung mit Gewalt und Liebe und mit Liebe und Gewalt unterdrückt« hat.
Dabei erinnert er sich vor allem an die Stunden, die er und seine Schwester mit der Mutter in Geschäften und Wartezimmern von Ärzten verbrachten. Einer Zeit, in der andere Kinder sich nicht so brav wie er und die Schwester verhielten. Sie beide bekamen von der Mutter ständig ein »bei Fuß« zugezischt, gefolgt von der Warnung »und keinen Laut will ich hören!« Das Verhalten anderer Kinder wurde mit der Drohung kommentiert: »Wenn ihr euch so benehmen würdet, ich würde euch erschlagen.« Als Kind wünschte er sich nichts sehnlicher als »einen Tag ohne Streit, Drohungen, Schläge und Wutausbrüche zu erleben.« 23
Das verborgene Wort
In Ulla Hahns Roman »Das verborgene Wort« zeigt Hildegards Vater der kleinen Tochter am ersten Schultag das neue Stöckchen hinter der Uhr. »Es war mit mir gewachsen. Mindestens
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