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Die geprügelte Generation

Die geprügelte Generation

Titel: Die geprügelte Generation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Müller-Münch
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erzählte es seiner Mutter, die ging zu Thoms Vater.
    Die Schläge, die Thom daraufhin bekam, empfand er als gar nicht so schlimm, an die hatte er sich längst gewöhnt. »Nein, das Schlimmste war die Predigt, die mein Vater hielt. Ich sei verroht und schlimmer als die Kinder von irgend so einem grausamen Mann in der Bibel. Ich musste früh ins Bett und bekam kein Abendessen. Das war grässlich, denn es gab Dampfnudeln.« Soweit der fiktive Thom.
    Stippvisite in einer Idylle
    »Ja, gerne«, antwortete mir Tilman Röhrig, als ich ihn anrief und um einen Interviewtermin bat. Er lebt in der Nähe von Köln, in einem gemütlichen Landhaus. Dort schreibt er seine erfolgreichen historischen Romane. Es ist ein sonniger Vormittag, an dem wir beide uns an seinen Esstisch setzen, das kleine Tonbandgerät aufgestellt neben verführerisch aussehenden Honigplätzchen und Dominosteinen.
    Dass »Thoms Bericht« nicht reine Fiktion ist, sondern auf seiner Kindheitserfahrung basiert, wird schnell klar. »Thoms Bericht«war sein zweites Buch, 1973 erschienen, da war Röhrig 28 Jahre alt und hatte längst ein turbulentes Leben hinter sich. »Ich habe es nicht geschrieben, um mit mir ins Reine zu kommen. Ich hab es erst geschrieben, als ich meinen Vater nicht mehr hasste«, stellt Röhrig gleich zu Beginn unseres Gespräches klar. Er wollte damals ein Buch schreiben über diese Zeit, »auch schon mit den Gedanken, dass es eben nicht nur mir so ergangen ist. Sondern vielen anderen auch.« Es sollte aber, das stand für ihn von Anfang an fest, kein Buch des Hasses werden, keine Abrechnung mit dem rohen Vater. Sondern Thom, sein Protagonist, sollte zwar brutal behandelt werden, dennoch, das war Tilman Röhrig ganz wichtig, »dreht er sich immer wieder um und versucht da herauszukommen.«
    So wie sein Autor, der auch Zeit seines Lebens nach Wegen gesucht hat, suchen musste, »um eben aus Notsituationen herauszukommen.« Für sein Buch hat er sich erkundigt, wie es Gleichaltrigen zu Hause ergangen war. Um dann aus seiner eigenen Erfahrung das herauszufiltern, was den Erlebnissen der anderen ähnelte. »So ist Thoms Bericht entstanden. Es ist also alles wahr, was in diesem Buch steht. Ich habe nur sehr vieles weggelassen, was sowieso keiner geglaubt hätte.«
    Tilman Röhrig kommt »aus einem sehr guten Elternhaus. Mein Vater war ein sehr angesehener Pfarrer«, beginnt er die Beschreibung seiner eigenen Kindheit. Im Zweiten Weltkrieg hat dieser Vater gemeinsam mit Pastor Niemöller im Kirchenkampf gegen die Nazis opponiert. »Der hat also unendliche Geschichten in dieser Zeit erlebt und sie auch gut gemeistert.« Nur nach dem Krieg, da gab es für seinen Vater nichts mehr, dem er widerstehen musste, nichts mehr zu kämpfen. Wohin nun mit all der Kraft, die noch in diesem jungen Pfarrer steckte? Sie wurde, sehr zum Leidwesen des kleinen Tilman und seiner zunächst vier Geschwister, auf die Familie konzentriert. »Er machte dort all das falsch, was er vorher richtig gemacht hatte.«
    Tilman war »das Sandwichkind. Das Kind in der Mitte.« Eineohnehin an sich schon problematische Position. »Mal gehört man zu den Großen, mal zu den Kleinen. Die Großen räumen auf, die Kleinen gehen ins Bett.« Der Mittlere hängt immer irgendwie dazwischen, gehört nirgendwo richtig dazu. Hinzu kam, dass Tilman Röhrig rote Haare hatte, als einziges der Kinder. »In einer Zeit, wo rote Haare noch offen verlacht wurden. Was heute nur noch versteckt geschieht.«
    Die Mutter geht – und lässt fünf Kinder zurück
    Tilman wuchs auf in einem Haushalt, dem dieser geradezu alttestamentarische Vater vorstand. Ein Mann, der felsenfest daran glaubte: wen Gott liebt, den züchtigt er. Ein Pfarrer, dessen Leben »einen großen Knacks bekam, als meine Mutter, der er vorher fünf Kinder gezaubert hat, ihn wegen eines anderen Mannes verließ. Ungeheuerlich für ein Pfarrhaus. Noch ungeheuerlicher ist, dass diese Frau ihre fünf Kinder nicht mitgenommen hat. Sie müssen sich vorstellen, das Jüngste war gerade neun Monate alt. Der Älteste zehn Jahre. Ich war damals sechs. Wenn man sie nebeneinander stellte, waren das so kleine Orgelpfeifen. Fünf Kinder, und die Mutter geht weg.«
    Damals, Anfang der 50er Jahre, war das Verhalten der Mutter eine von der Gesellschaft und der Gesetzgebung sanktionierte Normabweichung, die entsprechend bestraft wurde. Die Mutter durfte ihre Kinder jahrzehntelang nicht wiedersehen. Und vom Vater, ja von ihrer gesamten Umgebung wurde sie

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