Die geprügelte Generation
doppelt so dick wie die Schilfrohrstöckchen aus der Kindergartenzeit, die alle paar Monate auf den Sonntagsspaziergängen mit den Eltern erneuert worden waren. Das neue Stöckchen war aus Holz und himmelblau bemalt.« Sie sollte es bald schon zu spüren bekommen. »Es et nit schön?« kommentierte ihr Vater das nette kleine Prügelinstrument, lachte und balancierte das Stöckchen senkrecht auf der Handfläche. »Doför bes de jitz alt jenuch«, meinte er in seinem niederrheinischen Dialekt und hieb es wie zur Probe ein paarmal in die Luft. »Es sauste. Paß op, dat de Färv nit affjeht. Die Farbe nicht abgeht. Hau drupp, sagte später die Mutter, et hät et verdeent.« Sie hat es verdient.
Die Wut des Vaters entfachte sich an allem möglichen. Einmal ging er soweit, dass er Hildegards Gesicht in die heiße Buchstaben-Nudelsuppe drückte. Das Kind schrie auf, die Haut war regelrecht verbrannt. »Mein Gesicht wurde gewaschen, in kalte Tücher gepackt, mit Butter eingeschmiert, messerrückendick mit guter Butter. Brandblasen gab es nicht. Aber rote Flecken auf Wangen und Nase von erweiterten Gefäßen. Lebenslänglich.« Sein schlechtes Gewissen führte dazu, dass der Vater am nächsten Tag früher als sonst nach Hause kam. Und seiner verletzten Tochter das Fahrradfahren beibrachte.
Dann bekam Hildegard endlich eine Zahnspange. Eine teure Anschaffung für die Eltern. Doch die Freude hierüber hielt nur kurz. Eines Tages zog sich Hildegard wieder einmal den Zorn des Vaters zu. Woraufhin der sie zwang, die Zahnspange aus dem Mund zu nehmen. Mit Gewalt. »Mach de Muul op, zischte der Vater. Die Klammer eruss!« Er presste solange, umklammerte ihren Nacken, griff ihr unters Kinn, quetschte ihren Unterkiefer zusammen. »Die Kiefer sprangen auseinander, ich schrie vor Schmerzen,der Vater fuhr mit seinem Finger in meinem Mund herum. Ich würgte.« Irgendwann nestelte Hildegard die Klammer aus dem Mund. Der Vater nahm sie in die Hand, und während Hildegard verzweifelt Papa rief und winselte, drückte er zu. Langsam, ganz langsam, bis sich diese Klammer verbog, zu einem nicht mehr brauchbaren Klumpen. Dann reichte er seiner Tochter das zerstörte Teil zurück mit den Worten: »Do häs de et widder.«
Nicht alle geprügelten Kinder haben ein solches Ventil wie die Autoren, die ihre Kindheit literarisch verarbeiteten. Nicht jeder kann das zu Papier bringen, was ihm zuhause widerfahren ist. Erziehungswissenschaftler Ulf Preuss-Lausitz hält allerdings Reden oder Schreiben über die erlebte Tortur für »ganz wichtig. Vielleicht sogar wichtiger als die Täter zu bestrafen. Das muss rauskommen dürfen.« Egal, ob es um Prügel oder sexuellen Missbrauch, psychische Gewalt oder um Missachtungserfahrungen geht. »Die Opfer müssen darüber reden. Nur so können sie mit dieser Erfahrung verarbeitend umgehen und ihr Leben wieder in den Griff bekommen«, erklärte er mir.
Thom, die Fantasiegestalt – Tilman, der aus dem wirklichen Leben
Auf das Interview mit dem Schriftsteller Tilman Röhrig war ich gespannt. Eine Freundin hatte mich auf sein Buch »Thoms Bericht« aufmerksam gemacht, ein Jugendroman, der im Lauf der Jahre eine Auflage von über 500 000 Exemplaren erreichte. Noch immer liest Röhrig hieraus vor Schulklassen, noch immer fasziniert das in »Thoms Bericht« erzählte Schicksal eines von seinen Eltern misshandelten Jungen. Als ich es durchlas, wusste ich sofort: Hier schreibt jemand über etwas, das er sehr genau kennt. Der fiktive Thom ist, so wie Röhrig selbst, Pfarrerssohn und muss erleben, dass sein frommer Vater ihn immer wieder verhaut. Egal wie er sich verhält, was immer er auch tut. Daraus zieht Thomden Schluss, er glaube sowieso, »dass die Erwachsenen nicht immer so genau wissen, warum sie uns bestrafen. Sie tun es manchmal einfach deshalb, weil ihnen danach zumute ist.« 24 Oder weil sie glauben, mal wieder das Böse aus ihrem Kind herausprügeln zu müssen.
So wie an dem Tag, als Thom mit anderen Kindern eine Steinschleuder bastelte und damit auf ein Schwalbennest zielte. Wieder und immer wieder. Bis dann eine der kleinen Schwalben aus dem Nest fiel, Thom ganz mulmig beim Anblick dessen wurde, was sie da angerichtet hatten. Als dann einer der Jungen loslachte, »vielleicht nur, weil ihm auch übel geworden war«, da nahm der kleine Thom seine Steinschleuder und zielte auf den Kopf seines Kumpels. »Nicht fest, aber er hat getroffen und der andere hat geblutet«. Der schrie los, lief nach Hause,
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