Die geprügelte Generation
Auflage verstoßen. »Da bin ich auf der Straße verprügelt worden, lief heulend nach Hause, klingelte, meine Mutter kam an die Tür, blaffte mich an: Was willst du denn hier? Dann gab sie mir rechts und links eine Ohrfeige, sagte: Geh wieder runter und wehr dich. Und damit basta.« Die meiste Zeit spielten Henning und seine Schwestern auf Trümmergrundstücken. »Das waren regelrechte Mutproben. Da hing manchmal noch die halbe Küche in der Luft. Dann hieß es: Wer traut sich die Treppe hoch? Und dann sind wir da hoch gekrabbelt. Es war wirklich zum Teil lebensgefährlich.«
Wie in vielen der damaligen Familien musste auch bei Erich zu Hause gespart werden. Sein Vater war KFZ-Mechaniker, reparierte Baumaschinen. In Stuttgart hatten sie es zunächst schwer, entsprechenden Wohnraum zu finden. Die erste Zeit lebte man dicht gedrängt in der Zwei-Zimmer-Wohnung der Großeltern, später dann gab es wenigstens eine eigene Mietwohnung, bestehend aus einer Küche und einem weiteren Zimmer. Deshalb musste auch er, wollte er mit anderen Kindern spielen, raus an die frische Luft. Draußen verschwand die Jungenbande im nahegelegenen Wald. Die Fahrräder wurden mitgenommen, und dann übten sie Steilwandfahren in den Bombenkratern, die sie dort aufspürten. »Diese Bombentrichter hatten so 15 Meter Durchmesser. Das waren für uns regelrechte Rennstrecken. Ein Heidenspaß«.
Halbstarke
Hennings Eltern redeten immer von Halbstarken und meinten damit die in Lederjacken und Nietenhosen auftretenden jungen Leute, die raus wollten aus dem Mief ihres Elternhauses. Häufig kam es zu Randale nach Aufführungen von Filmen wie »Die Halbstarken« mit Horst Buchholz und Karin Baal oder »Die Frühreifen« mit Sabine Sinjen und Heidi Brühl. Auf Mopeds und Motorrädern fegten diese jungen Männer durch die Städte. »Diese Halbstarken!« wetterte Winis Vater immer dann, wenn in Zeitungen von Randale bei Rockkonzerten oder nach Kinobesuchen berichtet wurde und sagte mit verkniffener Stimme: »Die gehören alle abgespritzt, mit dem Wasserschlauch von der Feuerwehr.« Hennings Vater rief, wenn er irgendwo ein knatterndes Motorrad hörte: »’ne Maschinenpistole und bababababap.«
Die Sprache damals, da sind sich alle einig, war martialisch und ohne jegliches Geschichtsbewusstsein. Ich wuchs zum Beispiel mit einer ausgesprochen gebräuchlichen Formulierung auf, an der niemand Anstoß nahm. Wenn mich etwas nervte, kein Ende nehmen wollte, sagte ich, um deutlich zu machen, wie weit die Sache ging: »… bis zur Vergasung«. Ich wusste ja noch nichts von Auschwitz oder Majdanek. Niemand erwähnte im Alltag KZs, Judenvernichtung, Nazis. In der Schule stoppte der Geschichtsunterricht wie unabsichtlich nach der Weimarer Republik. Das große Schweigen über die Greuel der soeben erst zu Ende gegangenen Schreckensherrschaft der Nazis hatte eingesetzt.
Der Fernseher als Nachbarschaftstreff
Es war die Zeit, in der Familien gespannt vor dem Fernseher hockten. Nicht vor dem eigenen, soweit hatten es die meisten noch nicht gebracht, damals, als die Trümmer der Städte noch nicht weggeräumt waren. Als Familien provisorisch in Baracken, Behelfsheimen oder Notunterkünften lebten. Nachbarn, die esschon zu einer Flimmerkiste gebracht hatten, luden stolz Kind und Kegel zum Schwarz-Weiß-Fernsehen in ihre gute Stube ein. An manchen Abenden waren die Straßen regelrecht leergefegt, das wissen alle in der Tischrunde noch sehr genau. Dann nämlich, wenn es einen Francis Durbridge gab. Oder eine Stahlnetz-Folge. Peter Frankenfeld, an den erinnert sich Ellen. »Und wie hieß noch diese Sendung mit dem Abknallen?« Wini fällt es ein: »Kimme, Korn, ran! Mit Lou van Burg.«
Jochen wird langsam ungeduldig, hält das Niveau der genannten Beispiele nicht aus. »Es gab doch schon Kabarett. Die Insulaner, die Stachelschweine, die Lach- und Schießgesellschaft.« Ja, bestätigt Erich. »Mit Sammy Drechsel und Dieter Hildebrand. Das war damals der Höhepunkt. Da konnte man über Adenauer herziehen.«
Wenige Jahre später war es vorbei mit der Fernsehgeselligkeit, saß fast jeder längst vor dem eigenen Apparat. Der Wirtschaftsaufschwung hatte es ermöglicht. Und für so manchen sind jene Fernsehabende eng verknüpft mit der 1960 erstmals ausgestrahlten Familienserie »Die Hesselbachs« oder mit »Die Unverbesserlichen«, in der Inge Meysel die Käthe Scholz spielte, Schneiderin und Hausfrau. Eine Rolle, die ihr den Beinamen »Mutter der Nation«
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