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Die geprügelte Generation

Die geprügelte Generation

Titel: Die geprügelte Generation Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Müller-Münch
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einbrachte.
    Russische Eier und Toast Hawai
    Bei Wini zu Hause war – wie bei allen anderen an diesem Abend Anwesenden auch – zu Beginn der 50er Jahre noch Schmalhans Küchenmeister. Sein Vater, ein kleiner Postbeamter, war Mitglied der NSDAP gewesen und wurde deshalb nach dem Krieg zunächst als sogenannter Mitläufer entlassen. »Er hat dann in Mannheim in einem Handwerksbetrieb als Hutformenschnitzer gearbeitet. Freitags wurde der Lohn ausbezahlt, und dann hat er immer für uns Kinder ’ne große Tüte Bonbons mitgebracht. Oder manchmal, das war der Gipfel, so ’ne Schachtel Mohrenköpfe. Die musstedann einen Monat halten.« Ab und zu gab es zu Hause Obst. »Aber glaubt nicht, dass man sich davon einfach nehmen durfte, ohne zu fragen.«
    In dem kleinbürgerlichen Beamtenhaushalt von Winis Familie, mit vier Kindern und zwei Erwachsenen, war das Essen streng reglementiert. Es wurde genau bestimmt, wie viel Wurst zum Beispiel aufs Brot gelegt werden durfte, wann es ein Ei gab. »Der Vater kriegte jeden Sonntag eins. Wir Jungs umschichtig alle zwei Wochen. Da gab es feste Regeln, und ich weiß noch, wie meine Mutter immer sagte, die Cervelatwurst, die legst Du ganz vorne aufs Brot und schiebst sie immer ein bisschen weiter nach hinten. Dann reicht eine Scheibe Wurst für eine ganze Schnitte Brot.« Henning kennt diese Art, Wurst auf einer Scheibe Brot hin und her zu schieben. »Schiebewurst« hieß das bei ihm zuhause.
    In Westdeutschland stieg derweil der Wohlstand. Die typisch deutsche Hausmannskost – Eintöpfe, Linsensuppe, Kartoffeln mit Sauce, Stullen mit Wurst – kam seltener auf den Tisch. Aus der bloßen Nahrungsaufnahme wurde langsam eine Art von Freizeitgestaltung. Ab 1953 bat der Urvater der kochenden Fernsehdiven, Clemens Wilmenrod, zu Tisch. Unbefangen hantierte er mit Dosengemüse, Ketchup, Fertigmayonnaisen und pries ein Gericht an, das Furore machte: Toast Hawai, eine mit Dosenananas und Käse überbackene Weißbrotscheibe. Gästen wurden mit Weintrauben gespickte Käsestücke angeboten. Bei Wini gab es »Russische Eier«. Bei Jochen Ananasbowle. Ellens Eltern tranken zu festlichen Anlässen »Kalte Ente«, einen Mix aus Sekt und Weißwein oder von der Mutter selbst aufgesetzten Rumtopf.
    Schundhefte und Teppichfransen
    Jochen liebte Comics über alles. Damals hießen sie noch »Schundhefte« und wurden von seinen Eltern entschieden abgelehnt. Nur Donald-Duck-Hefte wurden toleriert, weil sein Vater selbst scharf war auf die witzigen Geschichten aus Entenhausen. Fix und Foxiwar gerade so geduldet. »Aber diese kleinen Hefte im Scheckformat über Sigurd den Ritter, Nick den Raumfahrer und Akim den Dschungelhelden waren verpönt. Mit denen durfte ich mich nicht erwischen lassen. Ich las sie nur in der Schule, bekam sie von Klassenkameraden, wir tauschten sie untereinander«, erzählt Jochen.
    Auch an die Musikanten erinnern sich fast alle. Die Sänger, die in Hinterhöfen standen, lauthals Lieder schmetterten, oftmals begleitet von ihrem Akkordeon. Hausfrauen wickelten ihnen einen Groschen, ein Zehnpfennigstück, in Zeitungspapier ein und warfen das Geld in den Hof. »Und dann hat der Sänger sich verbeugt.« Wini fallen Bettler ein, die häufig an der Wohnungstür klingelten. »Wenn die zufällig kamen, während wir beim Mittagessen saßen, dann wurden die einfach dazugesetzt. Ich habe noch so einen zahnlosen Typen genau vor Augen, der kam, als wir gerade Reisbrei aßen. Der freute sich und erzählte von seiner Kindheit.«
    Schrotthändler streiften regelmäßig durch die Viertel der großen Städte, bimmelten, damit ihnen die Bewohner Metall-Abfall hinstellten. Aber auch die Kinder sammelten Schrott. Wini zum Beispiel suchte mit Spielkameraden nach alten Dosen, brachte sie zum Händler, der stellte den Sack auf eine Waage und gab den Kindern 30 Pfennig. »Wir sind in Hannover durch die Hochhäuser«, erzählt Henning, »haben überall geklingelt und nach alten Zeitungen gefragt. Die Ausbeute haben wir gebündelt und auf einen Leiterwagen gestapelt. Damit ging’s ab zum Altpapierhändler. Der hat das abgewogen. Für ein Eis haben die Pfennige, die wir dafür bekamen, allemal gereicht.«
    Nein, so war das bei Wini nicht, dort wurden Zeitungen recycelt. »Mein Vater saß oft abends da und hat alle Zeitungen mit dem Messer zurechtgeschnitten, für Klopapier.« Jedes Blatt, so auf Postkartengröße zurechtgestutzt, wurde anschließend in ein schönes kleines Sperrholzkästchen gelegt, das hierfür

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