Die geprügelte Generation
extra im WC angebracht worden war. Für Wini war das insofern ein Problem,als er, sobald er auf der Toilette saß, regelmäßig anfing, in den zerschnittenen Zeitungsstücken zu lesen. Und seine liebe Not hatte, die passende Anschlussseite zu finden. »Ja, Papier war teuer«, wirft Erich ein, dessen Großvater einen regen Briefwechsel mit seiner Schwester in Passau pflegte. »Die Kuverts wurden immer nur mit Bleistift beschriftet. Wenn der Brief ankam, wurde die Adresse ausradiert, die neue Adresse drauf geschrieben. Und so ging das x-mal hin und her.«
Ein »Kaninchenstall« als Statussymbol
Bei Ellen wurde entsprechend dem Aufsteigerstatus des Vaters die Wohnung stilvoll eingerichtet, wurden die Wände mit Fototapete dekoriert. Davor stand repräsentativ auf weißem, flauschigem Schafwollteppich ein schwarz-gelb-genoppter Nierentisch mit passenden schwarz-gelb-genoppten Cocktail-Sesseln. Ein sogenannter »Kaninchenstall« wurde angeschafft. So hießen die riesigen, raumgreifenden Grundig-Musiktruhen mit integriertem Radio, Schallplattenspieler und Tonbandgerät, manche gab es sogar mit Barfach. Ellens Vater war von diesem Möbelstück hellauf begeistert. »Wir haben auf Tonband Musik aufgenommen. Heute würde man sagen, wir haben Karaoke gemacht. Die Musik wurde leiser gedreht, lief nur noch im Hintergrund und dann haben wir selbst dazu gesungen. Peter Kraus zum Beispiel: ›Ich bin ja so allein‹ oder die Rückseite: ›So wie ein Tiger, oh, oh, oh‹. Mein Vater und ich waren dabei immer ganz ausgelassen.«
Ein VW-Käfer durfte nicht fehlen, in den sie sich zu viert, manchmal zu fünft quetschten. Im Kofferraum die Zeltausrüstung. Am Lenkrad natürlich das männliche Familienoberhaupt. Ellen weiß noch, wie ihr Vater sie und ihre Schwester während der Autofahrten zum absoluten Stillschweigen verdonnerte, weil ihn jedes Wort irritierte, so unsicher fühlte er sich am Steuer. »Wenn wir doch gesprochen haben, haute der nach hinten auf uns drauf.«
Wini ist nicht ein einziges Mal mit den Eltern in Urlaub gefahren, bekam auch nie Taschengeld. Sein Vater war Alleinverdiener, mit vier Kindern reichte das Geld nie aus. »Wenn ich irgendwas gebraucht habe, hieß es immer, wir sind arm.« Mit diesem Satz: »Wir sind arm«, ist Wini groß geworden. Als deshalb Schwester Maria, eine Diakonissin, im Kindergarten sagte, wer arm sei, der bekomme ein Milchkännchen aus Porzellan geschenkt, hat Wini brav den Finger gehoben und gesagt: »Ja, wir sind arm. Daraufhin hat sie mir das Milchkännchen geschenkt. Damit ging ich nun ganz stolz nach Hause, erzählte meiner Mutter diese Geschichte. Die ist so was von ausgeflippt. Hat mit mir geschimpft.« Schämte sich offenbar, dass der Sohn die Armut in alle Welt hinausposaunt hatte.
Ellens Tante war Epileptikerin, während des »Dritten Reichs« musste sie versteckt werden, damit die Nazis sie nicht abholten und im Zug der sogenannten Aktion T4 umbrachten. Ein Gespräch über diese Behinderung war bei ihr zu Hause »ein totales Tabu. Immer wenn ich gefragt habe, was hat denn die Tante wirklich, hieß es nur, die konnte halt nicht zur Schule gehen.« Mehr nicht. Zu lange hatte ihre Familie diese Tante wohl versteckt, sich ein generelles Schweigen auferlegt, so dass man auch nach dem Krieg noch nicht wieder hierüber sprechen konnte. Nach und nach bekam sie dann heraus, wie schwierig und belastend es für ihre Mutter gewesen war, mit dieser versteckten Schwester groß zu werden. Gleichzeitig aber auch mit einem verbitterten Vater, der sich als Gewerkschafter gegen Ende der Weimarer Republik sehr exponiert hatte und ab 1933 Berufsverbot bekam. Zuhause bei den Großeltern war alles entsprechend bedrückend und schwer. So dass ihre Mutter, als dann Ellens fröhlicher, ausgelassener Vater des Weges kam, diesem Mann gleich folgte.
Ellens Vater kam aus einer jüdischen Familie, seine Großeltern hatten ein Restaurant in Duisburg, in einem wunderschönen Jugendstilhaus. Ihre Mutter hat offenbar verdrängt, dass ihr späterer Mann um zu überleben, »seinen Arierausweis gefälscht hat.Das leugnet sie. Er hat es mir aber selbst erzählt«, sagt Ellen. Der Deportation war die jüdische Familie von Ellens Vater nur deshalb entkommen, weil laut Familienstammbuch die jüdische Ur-Ur-Oma und der jüdische Ur-Ur-Opa zu weit zurücklagen in der Generationenfolge. So dass die Eltern ihres Vaters nicht jüdisch genug für eine Deportation waren. Aber immerhin noch jüdisch genug, so dass Ellens
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