Die Gerechten
war er unentdeckt geblieben. Er würde ein paar Minuten warten, und dann würde er TC holen und schleunigst von hier verschwinden.
Aber im nächsten Moment packte ihn eine Hand – sie schoss herein wie der Roboterarm einer Raumsonde, bevor er ein Gesicht gesehen hatte. Sie packte ihn beim Hemdkragen und versuchte ihn ins Licht zu zerren. Selbst im Halbdunkel der Mäntel sah er den Ärmel aus grauem Sweatshirt-Stoff. Zweimal bekam er den Arm mit beiden Händen zu fassen und konnte ihn von sich schieben. Aber jedes Mal kam die Hand zurück, und einmal schlug sie dabei hart gegen sein Kinn. In der Enge zwischen den Mänteln hatte Will nicht genug Platz, um auszuholen und über den Arm hinaus zu reichen, um den Mann dahinter zu treffen.
Der Kampf dauerte nicht lange. Will wurde aus seinem Versteck gezogen wie eine Scheibe Schinken aus einem Sandwich. Jetzt stand er dem Kapuzenmann von Angesicht zu Angesicht gegenüber. Zu seiner grenzenlosen Überraschung erkannte er ihn sofort.
39
SONNTAG, 15.56 UHR, MANHATTAN
»Warum sind Sie weggelaufen? Ich wollte nur mit Ihnen reden.«
»Reden? Sie wollten nur reden? Und warum schleichen Sie mir dann nach? Himmel!« Will beugte sich vor, stützte eine Hand auf das Knie und rieb sich mit der anderen das Kinn.
»Ich wollte Sie nicht ansprechen, solange Sie mit … mit dieser Frau zusammen waren. Da oben. Ich wusste nicht, wer sie ist. Ich wusste nicht, ob es sicher wäre.«
»Na, für mich wäre es sicherer gewesen, das können Sie mir glauben. Herr im Himmel.«
Will ließ sich auf einen Stuhl fallen und rang nach Atem.
»Und was zum Teufel soll das alles, Sandy? Oder lieber Shimon?«
»Shimon Shmuel. Aber nennen Sie mich ruhig Sandy, das ist einfacher.«
»Oh, danke.«
»Es tut mir Leid. Ich wollte Sie nicht schlagen, wirklich nicht. Aber ich konnte Sie nicht weglaufen lassen. Ich muss mit Ihnen sprechen. Es ist etwas sehr Schlimmes passiert.«
»Wem sagen Sie das. Meine Frau ist entführt worden, man hat mich gefoltert, Ihr Rabbiner hat in Bangkok jemanden umgebracht, und Sie verfolgen mich ein Wochenende lang und verpassen mir zum Grande Finale einen Kinnhaken.«
»Ich habe Sie nicht das ganze Wochenende verfolgt.«
»Hören Sie auf, Sandy, ich bitte Sie. Ich hab Sie gestern Nacht vom Fenster aus gesehen. Die Baseballcap hat Ihr Gesicht verdeckt, aber ich weiß, dass Sie es waren.«
»Ich schwöre Ihnen, ich hab Sie erst heute gesucht. Nicht letzte Nacht. Letzte Nacht war ich in Crown Heights.«
»Aber irgendjemand hat gestern Abend vor dem Gebäude der Times auf mich gewartet. Er ist mir zum Haus meiner Freundin gefolgt und hat draußen gewartet. Und bis jetzt kenne ich nur einen, der so was tut, nämlich Sie.«
»Ich schwöre Ihnen, ich war es nicht, Will. Gestern war es noch nicht nötig zu kommen.«
»Was heißt das, nicht nötig?«
»Gestern Abend war es noch nicht passiert. Wir haben es zumindest erst heute Morgen erfahren.«
»Was war nicht passiert?«
»Josef Jitzhok.« Seine Stimme brach, und Will sah ihn an. Er hatte die Kapuze immer noch nicht abgenommen – sie diente ihm als Ersatz für die Schädelkappe und erfüllte die religiöse Pflicht, seinen Kopf zu bedecken aber auch in ihrem Schatten sah man, dass Sandys Augen stark gerötet waren. Er sah aus, als habe er stundenlang geweint.
»Was ist mit ihm?«
»Er ist tot, Will. Er wurde brutal ermordet.«
»O mein Gott. Wo?«
»Das weiß niemand. Er wurde in einem Hausdurchgang in der Nähe der schul tot aufgefunden. Heute früh. Wahrscheinlich war er auf dem Weg zum schacharis. Zum Morgengebet, meine ich. Sein tallis, sein Gebetsschal, war voller Blut.«
»Ich kann es überhaupt nicht fassen. Wer soll das getan haben?«
»Ich weiß es nicht. Keiner von uns weiß es. Deshalb meinte Sara Leah – meine Frau, Sie haben sie kennen gelernt –, ich sollte Sie suchen. Sie meint, vielleicht hat es irgendetwas mit Ihnen zu tun.«
»Mit mir? Gibt sie mir die Schuld?«
»Nein! Wer spricht von Schuld? Sie meint, es hängt vielleicht mit dem zu tun, was am Freitagabend passiert ist.«
»Sie haben ihr davon erzählt?«
»Nur das, was ich wusste. Aber Josef Jitzhoks Frau ist ihre Schwester. Wir sind verwandt, Will. Er ist mein Schwager. War mein Schwager.« Seine roten Augen wurden wieder feucht.
»Hat Josef Jitzhok seiner Frau irgendetwas erzählt?«
»Nicht viel, glaube ich. Nur, dass er am Freitagabend mit Ihnen gesprochen hat. Er sagte, Sie wären da in eine sehr wichtige Sache hineingeraten.
Weitere Kostenlose Bücher