Die Gerechten
Rücken gelaufen, als er TC zuhörte. Vielleicht war das alles nur verrückter Hokuspokus, aber von dieser Anordnung von Kreisen und Linien, vor vielen hundert Jahren gezeichnet und über Generationen hinweg nur an solche weitergegeben, denen man den Umgang mit ihren Geheimnissen zutrauen konnte, schien eine große Macht auszugehen.
TC sagte leise: »Es ist merkwürdig, vom ›Abbild Gottes‹ zu sprechen. Die Mystiker glauben, es gäbe überhaupt nur einen Grund für das Dasein: Gott wollte Gott sehen.«
Will sah sie verwirrt an.
»Bis dahin gab es nichts. Kein Dasein, nirgends. Nur ein großes, transzendentales Nichts. Das Dumme war, dass Gott sich selbst nicht sehen konnte: Es gab keinen Raum für einen Spiegel. Also musste er ein wenig schrumpfen. Er musste sich zusammenziehen, um Platz zu machen, damit es einen Spiegel geben konnte – der Gott reflektierte. Siehst du, das steht hier.« Sie nahm ein anderes Buch zur Hand, eines, das sie bestellt hatte, während sie auf das Manuskript warteten, und das sie nun ungeduldig durchblätterte, bis sie die gesuchte Stelle fand.
»Bis zum Augenblick des Tzimtzum, der Einschränkung, konnte ›Angesicht nicht Angesicht sehen‹. Gott konnte sich nicht sehen.«
Will war fasziniert von diesem Bild und noch mehr von TCs Erklärung – aber er fühlte sich auch plötzlich mutlos. Dies waren tiefe theologische Gewässer: We tief würden er und TC darin eintauchen müssen, um den Zusammenhang zum Hier und Jetzt zu finden, zu den Chassiden, den Ermordeten und Beth?
Wieder erwachte sein Ärger über Josef Jitzhok. Wieso drückte der Mann sich nicht einfach klar aus?
Er war zwar schon einmal damit gescheitert, aber er beschloss, es noch einmal auf dem direkten Weg zu versuchen. Während TC über der Zeichnung brütete und manchmal den Kopf schräg legte, um die Worte an den Linien zwischen den Kreisen zu lesen, zog er sein Telefon aus der Tasche und schrieb eine SMS an JJ.
Sind in der Bibliothek. Sehen die Zeichnung. Wir brauchen mehr.
Er sah die Uhrzeit auf dem Display: fünfzehn Uhr dreißig. Also war es Nacht in Bangkok. Er warf einen Blick auf den Blackberry: Aus der Auslandsredaktion war nichts gekommen.
»Hör zu«, flüsterte er, »ich gehe hinaus und rufe in der Redaktion an. Bin gleich wieder da.«
»Bring mir etwas zu trinken mit.«
Kaum lag der Lesesaal hinter ihm, wählte er die Nummer der Auslandsredaktion. Andy meldete sich, bevor Will das Gebäude verlassen hatte.
»Yo, Will. Was geht? Scheiße, ich sollte dir was schicken, oder? Sorry, aber das hier ist ein Irrenhaus, schon den ganzen Nachmittag.«
»Andy! Ich hab doch gesagt, ich brauche es schleunigst!«
»Ich weiß, ich weiß. Hab Mist gemacht. Aber jetzt kommt’s sofort.«
»Lies es mir vor, ja? Ich kann nicht noch länger warten.«
Will marschierte auf der großen Treppe vor dem Eingang auf und ab. Immer wieder musste er sich ducken und in Schlangenlinien bewegen, um nicht auf allzu vielen Fotos japanischer Touristen zu erscheinen.
»Will, du weißt, dass die Zeit bis Redaktionsschluss ein bisschen knapp ist, nicht wahr?« Er sprach mit affektiertem englischen Akzent. Andy machte sich über ihn lustig; das war ein gutes Zeichen.
»Okay, es geht los. Aber die komischen Namen muss ich überspringen, sonst dauert’s zu lange.
Von John Bishop, Bangkok. Samak Sangsuk wurde gestern betrauert, von denen, die ihn am besten kannten – und von einigen, die ihn fast gar nicht kannten.
Mr. Samak, der am vergangenen Samstag einer mutmaßlichen internationalen Kidnapper-Organisation zum Opfer fiel, gehörte zur thailändischen Finanzelite und verdiente ein Vermögen mit Immobilien und Beteiligungen an der blühenden thailändischen Tourismusindustrie.«
Weiter, weiter, dachte Will.
»Aber in der Unterschicht Bangkoks war er bekannt als ›der Bestatter‹. Mr. Samak, so scheint es, hatte eine seltsame Nebenbeschäftigung, die er nicht wegen des Profits, sondern um ihrer selbst willen ausübte. Er organisierte Armenbegräbnisse.
›Mr. Samak hatte Kontakt zu allen Leichenschauhäusern, Krankenhäusern, Bestattungsinstituten, berichtete ein alter Freund am Samstag. »›Gab es einen Verstorbenen ohne Freunde und Verwandte, ohne irgendjemanden, der für die Bestattung aufkommen konnte, riefen sie Mr. Samak an.«‹
Wills Puls begann schneller zu schlagen.
»Will? Bist du noch da?«
»Ja. Lies weiter.«
»Früher fanden die Ärmsten von Bangkok ihre letzte Ruhestätte in einem Armengrab,
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