Die Gerechten
Länge des Kirchenschiffs hinauf und ließ den Blick über die Bänke schweifen. Er schaute auf zu den Lautsprechern und Bildschirmen an den Säulen. Es gab Wandteppiche mit Inschriften, aber nichts schien auf die Nachricht zu passen. Er sah bunte Glasfenster mit Heiligen, Hirten und hin und wieder einer Schlange, und er glaubte auch den einen oder anderen Engel zu erkennen.
Moment. Da über ihm, alles andere ringsum beherrschend, hing ein großes Kruzifix. Weißes Licht flackerte auf der Christusfigur; die Touristen standen Schlange, um es zu fotografieren.
War das der Herr des Himmels, aber nicht der Hölle? Die Unterwelt war ja das Reich Luzifers, nicht das Reich Jesu. Vielleicht war es so einfach. Vielleicht sollte er sich Jesus ansehen. Aber was dann?
Er wünschte, TC wäre bei ihm. Noch ein Paar Augen, noch ein Verstand. Sandy war nett, aber er besaß nicht die laserscharfe Beobachtungsgabe und nicht den durchdringenden Verstand, den Will jetzt nötig hatte.
Will wandte sich zum Ausgang. Er stopfte einen Dollarschein in die gläserne Spendenbox, die angefüllt war mit Münzen in tausend verschiedenen Währungen.
Draußen rief er sofort TC an.
»Hör zu, wir waren jetzt in der Kathedrale. Ich sollte den Herrn des Himmels, aber nicht der Hölle finden. Aber da ist nichts, was irgendetwas damit zu tun hat. Ich sehe jedenfalls nichts. Ja, ja, ich bin überall gewesen. Da sind Kirchenbänke, ein Kruzifix –«
Sandy zupfte ihn am Ärmel. Er wollte ihn abschütteln, aber Sandy ließ nicht los.
»Was ist denn? Ich rede hier mit TC.«
»Sehen Sie doch.« Sandy deutete quer über die Straße.
»TC, ich melde mich gleich wieder.«
Der Kathedrale gegenüber war das Rockefeller Center. Sandy lief schon los, um genauer hinzusehen. Fast ohne auf den Verkehr zu achten, überquerte er die Straße, und Will folgte ihm. Dann standen sie davor.
Vor ihm. Schimmerndes Metall, ein muskulöser Brustkorb, die Konturen eines perfekten, mythischen Körpers. Seine Schenkel waren gewaltig, jeder so dick wie ein Bison. Der eine Fuß stand vor dem anderen, wie bei einem Gewichtheber, der sein Gleichgewicht zu halten sucht. Aber was er stemmte, war kein gewöhnliches Gewicht.
Seine Arme waren erhoben und leicht gekrümmt, um sich der Form seiner Last anzupassen. Denn auf seinen Schultern ruhte nicht weniger als das Universum, dargestellt in einem Gittermuster von Linien wie die Längen- und Breitengrade des Globus. Die metallenen Kreise waren mit den Namen der Planeten bezeichnet. Sie standen vor der größten Skulptur des Rockefeller Centers, der zwei Tonnen schweren Atlas-Statue.
»Sehet den Herrn des Himmels, aber nicht der Hölle.« Sandy murmelte die Worte wie zu sich selbst.
»Ich verstehe, warum er der Herr des Himmels ist«, sagte Will. »Aber was soll das mit der Hölle?«
Sandy bekam kaum ein Wort heraus. Er war atemlos vor Erregung. »Da gibt’s eine berühmte Geschichte zu dieser Statue. Als sie aufgestellt wurde …«
»Ja?«
»… hatte man Pluto noch nicht entdeckt. Also ist da kein Pluto.«
»Und Pluto ist der Gott der Unterwelt«, flüsterte Will. Sehet den Herrn des Himmels, aber nicht der Hölle. Er hatte es gefunden. Er rief TC an und beschrieb ihr, was er sah.
»Du musst mich abholen«, sagte sie. »Und dann gehen wir zu dir nach Hause.«
»Warum?«
»Ich glaube, ich weiß endlich, was los ist. Und Atlas hat es mir bestätigt.«
41
SONNTAG, 17.50 UHR, BROOKLYN
Dies war nicht der Augenblick für Befangenheit. Trotzdem spürte er, dass es für TC ein seltsames Gefühl war, hier zu sein, in der Wohnung des Mannes, den sie einmal geliebt, und der Frau, die er geheiratet hatte. Er sah den verstohlenen Blick, den sie auf die Fotos warf, besonders auf die Collage der Hochzeitsbilder – vielleicht zwei Dutzend Stück, unter Glas –, die in der Küche hing.
Wenn es für TC schon seltsam war, so war es für Will schrecklich. Er war nicht mehr hier gewesen, seit Beth verschwunden war. Jetzt sah er den Kalender mit den Notizen in ihrer Handschrift. Er sah ihre Strickjacke auf einer Stuhllehne. Ihre Abwesenheit war so spürbar, dass seine Augen brannten.
»TC, du musst mir sagen, was los ist.« Auf dem ganzen Weg vom Central Park, seit sie Sandy nach Hause geschickt hatten, hatte er sie gedrängt, zu reden. Aber sie hatte sich standhaft geweigert.
»Will, ich bin nicht sicher, dass ich Recht habe. Und ich kenne dich: Sobald ich anfange zu reden, wirst du losrennen und irgendetwas tun, und das könnte
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