Die Gerechten
Nein – das war’s nicht. Etwas Katastrophales, hat er gesagt. Das war das Wort, das er gebrauchte: katastrophal.«
»Hat er seiner Frau sonst noch etwas erzählt?«
»Nur, dass er hoffe und bete, Sie würden verstehen, was da vor sich geht. Und Sie würden wissen, was zu tun ist.«
Will fühlte sich hilfloser denn je. Der Rabbi hatte es zuerst gesagt, und jetzt wiederholte Josef Jitzhok es aus dem Reich der Toten. Eine uralte Geschichte entfaltet sich, hatte der Rabbi gesagt. Etwas, das die Menschheit seit Jahrtausenden fürchtet. Jetzt sagte JJ, es sei etwas so Katastrophales, dass er nur hoffen und beten könne, dass Will das Richtige tun werde. Aber er war noch genauso ratlos wie zuvor. Ratloser vielleicht – in seinem Kopf drehte sich alles: das bizarre Zusammentreffen der Morde an Macrae, Baxter und Samak, drei noblen Männern, die machtvollen Redefiguren aus dem Buch der Sprüche und zuletzt das unergründliche, mystische Diagramm, das er und TC hier in der Bibliothek gefunden hatten.
»Scheiße! TC ist ja noch oben. Kommen Sie mit. Schnell!«
Wütend über sich selbst stürmte er die Treppe hinauf und durch die Gänge zurück zum Lesesaal. Sandy blieb ihm auf den Fersen. Wie hatte er sie nur so lange allein lassen können?
Er lief zu dem Tisch, an dem er vor fast einer Stunde mit TC gesessen hatte. Als er näher kam, sank ihm das Herz in die Hose. Da saß eine Frau – aber das war nicht TC. Sie war weg!
Will schlug mit der Faust auf den Tisch, und ein stechender Schmerz durchzuckte seinen Arm. Die Frau starrte ihn voller Angst an. Wie konnte ich so dumm sein? Jetzt hatten die Entführer ihm zwei Frauen geraubt. Er hätte sie beide beschützen müssen, und er hatte versagt. Bei beiden.
Sandy stand neben ihm, aber Will sah und hörte ihn nicht. Erst ein stetes, hartnäckiges Vibrieren an seinem Oberschenkel riss ihn aus seiner Erstarrung. Das Telefon!
Zwei neue Nachrichten.
Er rief die erste auf.
Wo bist du? Musste weg. Ruf mich an. TC.
Will atmete auf. Dank sei Gott im Himmel. Er öffnete die nächste Nachricht; sicher war sie auch von TC, und wahrscheinlich schlug sie einen Treffpunkt vor. Aber was er sah, ließ ihn zwei Schritte rückwärts taumeln. Fiftieth and fifth.
Josef Jitzhok mochte tot sein. Aber die Rätsel lebten weiter.
40
SONNTAG, 16.04 UHR, MANHATTAN
»Wann ist sie gekommen?«
»Eben. Vor ein paar Minuten.«
»Also, das Erste, was wir daraus schließen können, ist, dass Josef Jitzhok nicht unser Informant war.«
»Das wissen wir nicht, TC. Vielleicht hat sein Mörder das Telefon an sich genommen und weitere Nachrichten abgeschickt.« Noch während er es sagte, sah er, wie absurd diese Vermutung war. Warum sollte ein Mörder ein Telefon stehlen, einen Blick in den »Gesendet«-Ordner werfen und weiter verschlüsselte Botschaften von der gleichen Sorte verschicken? Außerdem ließ sich das leicht überprüfen.
»Sandy, können Sie mir einen Gefallen tun? Rufen Sie zu Hause an und stellen Sie fest, ob Josef Jitzhoks Telefon gestohlen wurde, als man ihn ermordete.« Dann sprach er wieder in sein Handy. Er hatte eine neue Theorie für TC. »Was ist, wenn jemand sein Telefon schon früher gestohlen hat?«
»Na, dann wäre es ja auch nicht JJ gewesen, von dem die Nachrichten kamen, oder?« TC war allmählich genervt. Weil sie nicht wagte, in ihr Apartment zurückzukehren, war sie in den Central Park gegangen. Zu ihrer Erleichterung hatte sie dort Leute getroffen, die sie kannte – ein Ehepaar mit vielen Kindern. Will hörte durch das Telefon, dass sie sich inmitten der Familie befand. Kinderwagen, Kleinkinder und Picknickdecken, dachte sie, würden ihr als Sicherheitsabsperrung dienen und Entführer und Verfolger fern halten. Er hörte Kinderlärm, ein Softballspiel und eine Mutter, die Kuchen verteilte, und dabei verspürte er jähen Neid – besser gesagt, Sehnsucht. Sehnsucht nach einem Sonntagnachmittag in entspannter, sonniger Normalität.
»Du meinst also, es war die ganze Zeit nicht JJ, sondern jemand anders.«
»Ja, das meine ich. JJ ist tot, aber die Nachrichten hören nicht auf. Ergo: Er war nicht der Absender.
»Und warum haben sie ihn umgebracht?«
»Wer?«
»Die Chassiden.«
»Wir wissen nicht, ob die Chassiden ihn umgebracht haben. Das ist eine übereilte Schlussfolgerung von dir. In Wahrheit, Will, wissen wir kaum etwas. Wir können raten, spekulieren, Theorien aufstellen, aber wir wissen sehr wenig.«
»Was ist mit der Zeichnung in der Bibliothek? Hast
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