Die Gerechten
du da noch was gefunden?«
»Ich glaube, sie soll uns etwas sehr Einfaches sagen. Sie sagt: ›Denkt im Sinne der Kabbala.‹ Das Bild ist so komplex und hat so viele Bestandteile, dass es da nicht um eine kleine Einzelheit gehen kann, sondern nur um eine allgemeine Idee. Dieses Diagramm ist der Grundstein der gesamten Kabbala. Fast wie ein Logo.«
»Warte. Da kommt wieder eine SMS. Ich rufe dich wieder an.«
Im Gehen drückte er die Tasten, um sich die Nachricht anzeigen zu lassen. Hoffentlich war sie nicht wieder verschlüsselt. Ohne TC an seiner Seite brauchte er dringend etwas Klares und Einfaches.
Sehet den Herrn des Himmels, aber nicht der Hölle.
Sie hatten nur ein paar Straßen weit nach Norden zu gehen, um zu der Kreuzung zu kommen, die in der SMS angegeben war: 50th Street, Ecke 5th Avenue. Dort standen sie jetzt. Vor ihnen ragte die St. Patrick’s Cathedral auf wie eine unheimliche Festung. Vor kaum mehr als einer Woche hatte er mit seinem Vater hingerissen drinnen gesessen und den »Messias« gehört. Vor einer Woche und in einem anderen Leben.
Sein Vater. Ein Gefühl der Schuld durchzuckte Will: Er hatte seinen Vater kaum in die Suche einbezogen. Es war offensichtlich, dass er helfen wollte. Er hatte das gestern Abend und auch heute Morgen deutlich gemacht, hatte sogar beim Lösen der rätselhaften SMS-Nachrichten geholfen. Aber Will war ungeduldig mit ihm gewesen. Er hatte ihn als Chauffeur eingespannt, aber mehr nicht. Vielleicht standen sie sich, trotz ihres Bemühens in den letzten zwei Jahren, nicht so nahe, wie es Will gern geglaubt hätte. Die meisten Männer hätten wahrscheinlich in einer solchen Krise ihren Vater als Hauptverbündeten angesehen – aber Will war nicht wie die meisten. Der größte Teil seiner Kindheit, die prägenden Jahre seines Lebens hatte er weit weg, auf der anderen Seite des Atlantiks verbracht.
Er sah die Kirche an und dachte an den ersten Eindruck, den er bei seiner Ankunft in New York gehabt hatte. Damals war sie ihm irgendwie lächerlich vorgekommen. Trotz seiner Liebe zu alten Gebäuden fand er, dass dieses große Gewölbe, das wunderbar nach Paris, Rom oder London gepasst hätte, mitten in Manhattan absurd aussah. Eingeklemmt zwischen Wolkenkratzern aus Stahl und Glas, schien die Kathedrale mit ihren Bogenfenstern, Zinnen und spitzen Türmen, die sich in den Himmel bohrten, nicht nur am falschen Platz, sondern in der falschen Zeit zu stehen. Sie verkörperte den vergeblichen Versuch, den Ansturm des Modernen zurückzuhalten. Dies war die schnellste Stadt der Welt, und die Kathedrale stand unversöhnlich mittendarin – und versuchte, die Uhr anzuhalten.
Was konnte das bedeuten? Er winkte Sandy, er solle ihm folgen, und schob sich durch die Scharen von Touristen. Als er die Kirche betrat, umhüllte ihn sofort die ehrfürchtige Stille, die riesige Gotteshäuser erfüllt wie ein Nebel. Will ging durch das Kirchenschiff nach vorn und suchte nach irgendetwas, das auf die Nachricht gepasst hätte. Wer war der Gott des Himmels, aber nicht der Hölle?
Er sah sich um. Sandy stand immer noch in der Tür; er gaffte zu der unglaublich hohen Decke hinauf, und ein hallendes Echo ließ ihn den Kopf einziehen. Offensichtlich war er noch nie in einem solchen Gebäude gewesen. Der Kontrast zum Linoleum und zu der imitierten Holztäfelung in der Synagoge der Chassiden überwältigte ihn. Will fiel etwas ein, das sein Vater einmal gesagt hatte: dass religiöse Menschen vieles miteinander gemeinsam hätten, auch wenn sie unterschiedlichen Glaubens seien. »Derselbe Zauber wirkt auf sie alle.« Kein Zweifel: Sandy war bewegt.
Will, der seine Schulzeit und sein Studium in Oxford in weit älteren Gebäuden als diesem hier verbracht hatte, war nicht übermäßig beeindruckt von kalten Steinböden oder pseudomittelalterlicher Architektur. Er hatte eine Aufgabe: Er suchte den Herrn des Himmels, aber nicht der Hölle. Er betrachtete die große Orgel und die kleinere Altarorgel. Er betrachtete den Altar und die Kanzel, die aussah wie das Krähennest auf einem Piratenschiff. Er betrachtete die schmalen Regale, in denen Glasschalen für Kerzen standen, und die Kerzen selbst, die gratis erhältlich waren. Er schaute in die kleine Seitenkapelle, die offenbar für eine private Zeremonie geschlossen war. Er hob den Blick hinauf zu den beiden Fahnen: die erste war die Flagge der Vereinigten Staaten, die zweite die des Vatikans. Er hatte keine Ahnung, wonach er suchte.
Er ging die ganze
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