Die Gerechten
Blick von dem Buch vor ihr zu wenden. Sie sah ehrfürchtig aus.
Will griff nach seinem Notizblock. Vielleicht handelte es sich um eine mathematische Übung, die man arithmetisch notieren musste. Er schrieb »3-mal« als »3 x«. Vielleicht war das »I« eine Eins. 3x1=3. Das war nichts.
Dann warf er einen zweiten Blick auf das, was er geschrieben hatte. Moment. Seine Gedanken wanderten zurück zu den Mittwochnachmittagen, die er als Neunjähriger in Mr. McGregors Lateinunterricht verbracht hatte. McGregor war ein Lehrer alten Schlages gewesen; er hatte einen schwarzen Talar getragen und den Tafelschwamm durch die Klasse geschleudert, wenn er wütend war. Aber jedes seiner Worte war den Schülern im Gedächtnis geblieben. Auch die Spiele, die er mit den unteren Klassen gespielt hatte, um ihnen die römischen Zahlen beizubringen.
Eilig schrieb er »3-mal« als drei »x« hintereinander: xxx. Und jetzt »I kiss«. Wie symbolisierte man einen Kuss in einem Brief? Mit dem Buchstaben x. (Er musste plötzlich daran denken, wie Beth zum ersten Mal eine SMS mit einem x unterzeichnet hatte. Nur ein x nach ihrem Namen, aber Will war hingerissen gewesen. Das war in der kurzen, köstlichen Eröffnungsphase ihrer Beziehung gewesen, als sie sich ineinander verliebt hatten, ohne es schon laut auszusprechen. Beths »x« war eine erste Kostprobe gewesen.)
Er schrieb es hin. »xxx« für »3-mal«, und ix für »I kiss«.
»Es ist Seite neununddreißig.«
TC reagierte langsam; sie behandelte das Buch mit ernster Sorgfalt. Will hätte es ihr am liebsten aus der Hand gerissen, um sofort zu sehen, was sie da sehen sollten.
»Okay«, sagte TC schließlich. »Das ist es.«
Was sie auf der Seite sahen, war weniger ein Bild als vielmehr eine Grafik. Sie bestand aus zehn Kreisen, geometrisch angeordnet und durch ein kompliziertes Netz von Linien miteinander verbunden. Diese Art von Zeichnungen kam Will unbestimmt vertraut vor, aber er brauchte einen Augenblick, um auf den Grund dafür zu kommen. Sie sah aus wie die zweidimensionalen Darstellungen von Molekularstrukturen im Chemiebuch seiner Schulzeit.
Aber hier stand in jedem Kreis ein Wort geschrieben. Will musste die Augen zusammenkneifen, um zu erkennen, dass es hebräische Schriftzeichen waren. Es war ein merkwürdiger Gegensatz, die Geometrie und wissenschaftliche Exaktheit in einer Zeichnung, die aus dem Mittelalter stammte.
»Was ist das?«
Er sah, dass TC nicht antworten wollte. Sie war über die Zeichnung gebeugt, und ihre Schulter versperrte ihm fast den Blick.
»Ich weiß es noch nicht genau. Ich muss es mir anschauen.«
»Komm schon, TC. Du weißt genau, was es ist.« Will flüsterte lautstark. »Sag’s schon.«
Befangen und in dem Bewusstsein, dass die Bibliothekarin direkt neben ihnen stand, deutete sie auf die Abbildung. »Das ist das Schlüsselbild der Kabbala.«
»Kabbala? Wie bei Madonna? Rote Bändchen und so weiter?«
TC verdrehte die Augen, und ihr Gesichtsausdruck fragte: Wo soll ich nur anfangen?
»Nein, das ist doch nur ein alberner Promi-Kult. Das hat mit der wirklichen Kabbala so wenig zu tun wie … was weiß ich, wie der Osterhase mit dem Christentum. Hör einfach zu.«
»Sorry.«
»Die Kabbala ist jüdische Mystik. Eine sehr arkane Form jüdischer Gelehrsamkeit, die den meisten Leuten gänzlich verschlossen ist. Man darf sie überhaupt erst anschauen, wenn man mindestens vierzig Jahre alt ist. Und ihr Studium ist nur Männern erlaubt.«
»Und was hat es mit diesem Bild auf sich?«
»Es ist sozusagen der Ausgangspunkt der Kabbala. Es enthält alles, und es heißt ›Baum des Lebens‹.«
»O Gott.«
»Sie glauben, genau das ist es. Eine diagrammatische Darstellung der Schlüsselelemente, die Gott ausmachen. Jeder dieser Kreise ist ein Sefirah, ein göttliches Attribut.« Sie deutete auf den untersten Kreis. »Unten fängt es mit Malchut an. Das bedeutet Königreich. Die Verzweigungen sind Yesod, das Fundament, Hod, die Pracht, und Netzach, die Ewigkeit. Weiter geht es zu Tiferet, der Schönheit, Gevurah, der Gerechtigkeit, und Hesed, der Gnade. Und schließlich, an der Spitze des Baums, steht Binah, was so etwas wie den intellektuellen Verstand bedeutet. Rechts davon haben wir Hochmah, die Weisheit, und ganz oben Keter, die Krone. So etwas wie die göttliche Essenz.«
»Was wir da sehen, ist also ein Abbild Gottes.«
»Oder zumindest die beste Annäherung, die wir kennen.«
Will konnte nichts sagen. Ein kalter Schauer war ihm über den
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