Die Gerechten
Mädchenschule – fand ich eins dieser Bücher mit Bildern großer Maler. Über Vermeer. Ich stahl es und versteckte es unter meinem Kopfkissen. Und es ist kein Witz – monatelang wartete ich jeden Abend, bis meine Schwestern eingeschlafen waren, und dann betrachtete ich unter der Bettdecke diese wunderbaren Bilder. Starrte sie einfach an. Und ich wusste, so etwas wollte ich auch malen.«
»Und da hast du damit angefangen.«
»Nein. Ich hatte ja nie Zeit. Im Seminar hieß es immer nur: lernen, lernen, lernen. Die heiligen Texte. Zu Hause musste ich kochen, putzen, Windeln wechseln, mit den Kleinen spielen und den Größeren bei den Hausaufgaben helfen. Außerdem teilte ich das Zimmer mit zwei Schwestern. Ich hatte weder Zeit noch Platz.«
»Das muss dich doch verrückt gemacht haben.«
»Hat es auch. Jeden Tag hab ich davon geträumt wegzukommen. Ich wollte ins Metropolitan Museum. Vermeer sehen. Aber es war nicht nur das Malen.«
»Sondern?«
»Ich weiß, es klingt komisch, wenn man mich heute sieht, aber ich war wirklich gut im Religionsunterricht.«
»Tut mir Leid, das klingt überhaupt nicht überraschend.«
»Ich war die Beste in meiner Klasse. Es fiel mir leicht. Die Texte, die vielfältigen Bedeutungen und Querverweise – das alles erschloss sich mir ganz von selbst. Einmal sagte ein Rabbiner, ich sei genauso gut wie ein Junge.«
»O Gott.«
»Ja, ich war wütend. Es bedeutete, dass es für Mädchen eine Grenze gab. Mit siebzehn, achtzehn Jahren bist du eine Frau – und das heißt, du heiratest, bekommst Kinder und versorgst den Haushalt. Männer konnten bei der Jeschiwa bleiben, so lange sie wollten, aber Mädchen durften sich nur die Grundlagen aneignen. Dann mussten wir aufhören. Das waren die Vorschriften. Die Fünf Bücher Moses, ein bisschen Gemara vielleicht, einen rabbinischen Kommentar. Aber das war alles.«
»Und die ganze Kabbala-Sache hast du also nie studiert.«
»Ich durfte nicht. Das hab ich doch schon vorhin gesagt, das dürfen nur Männer über vierzig.«
»Himmel.«
»Ja. Aber du kennst mich: Wenn es einen verbotenen Bereich gibt, will ich hinein. Ich fand ein paar Bücher unter den Sachen meines Vaters, aber ich wusste, allein würde ich nicht weiterkommen. Ich brauchte Anleitung. Also fragte ich Rabbi Mandelbaum.«
»Wer ist das?«
»Der, der mir gesagt hatte, ich sei fast so gut wie ein Junge. Ich sagte ihm, ich wollte studieren. Ich zeigte ihm alle entsprechenden Textstellen, die bewiesen, dass ich das Recht hatte, auch als Frau zu wissen, was in diesen Büchern stand.«
»Und er war einverstanden? Hat er dich unterrichtet?«
»Jeden Dienstagabend, heimlich in seiner Wohnung. Die Einzige, die außer uns davon wusste, war seine Frau. Sie brachte immer ein Glas Zitronentee für ihn, ein Glas Milch für mich – und rugelach, kleine Kuchen für uns beide. So ging es fünf Jahre.« Sie lächelte.
»Und dann?«
»Er fing an, sich Sorgen zu machen. Nicht seinetwegen – er war so alt, dass es ihm egal war, was die Leute dachten –, aber um mich. Ich kam allmählich ins heiratsfähige Alter‹. ›Tova Chaya‹, sagte er, ›ein Mann muss sehr stark sein, wenn er sich durch eine so gelehrte Frau nicht bedroht fühlen soll.‹ Ich glaube, er hatte Angst, er könnte mich verdorben haben: Ich könnte seinetwegen als Hausfrau nicht mehr glücklich sein. Ich könnte keine gute Ehefrau werden wie Mrs. Mandelbaum. Er hatte meinen Horizont erweitert, meine Ziele höher gesteckt. Und in gewisser Hinsicht hatte er Recht.
Aber er hätte sich keine Sorgen machen müssen; ich hatte meine Flucht längst geplant. Ich bewarb mich um einen Studienplatz an der Columbia – unter einer Postfachadresse, damit niemand die Korrespondenz entdecken konnte. Ich bewarb mich um unzählige Stipendien, damit ich mir ein eigenes Zimmer leisten könnte. Ich gab mich als unabhängige Erwachsene aus; was das College anging, hatte ich keine Eltern.
Und als der Tag kam, machte ich den Kleinen das Frühstück wie immer, sagte meiner Mutter wie immer Auf Wiedersehen und ging zur U-Bahn.«
»Und du bist nie zurückgekehrt.«
»Nie.«
Tausend Fragen gingen Will durch den Kopf, aber zugleich überwältigende Antworten. Plötzlich sah er so vieles, das ihm verborgen gewesen war. TC war kein vergessener Spitzname aus der Kindheit, sondern ein Überbleibsel aus Tova Chayas früherem Leben. Und kein Wunder, dass ihre Eltern so geheimnisvoll waren: Sie gehörten in eine Vergangenheit, die sie hinter sich
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