Die Gerechten
ein großer Fehler sein. Wir müssen sicher sein, hundertprozentig sicher. Wir haben keinen Platz für Vermutungen.«
»Okay, ich verspreche dir, dass ich nirgendwohin renne. Sag’s mir einfach.«
»Das kannst du mir nicht versprechen. Und ich kann’s dir nicht verdenken. Vertrau mir, Will. Bitte.«
»Und wann werde ich es erfahren?«
»Bald. Heute Abend.«
»Du sagst es mir heute Abend.«
»Du wirst es heute Abend erfahren. Nicht ich werde es dir sagen.«
»Jetzt mal ernsthaft, TC. Ich hab die Nase voll von Rätseln. Was soll das heißen, nicht du wirst es mir sagen?«
»Wir fahren nach Crown Heights. Die Antwort ist dort.«
»Wir? Heißt das, du kommst mit?«
»Ja, Will. Es wird Zeit.«
»Ja, das kann man wohl sagen. Ich meine, es leuchtet ein …« Will brach ab. TC sah ihn erwartungsvoll an. Er begriff nicht gleich, was ihr Gesichtsausdruck bedeutete. Sie wartete darauf, dass er ihr noch eine Frage stellte.
»Was soll das heißen, ›es wird Zeit‹?«
»Hast du es noch nicht erraten, Will? Das ganze Wochenende? Alles, was wir getan haben? Du hast es wirklich nicht erraten?«
»Was sollte ich erraten?«
Sie wich seinem Blick aus und wandte sich ab. »Oh, Will. Ich bin wirklich überrascht.«
Er wurde lauter. »Warum bist du überrascht? Wovon redest du?«
»Es ist sehr schwer für mich, Will. Ich weiß nicht genau, wie ich es sagen soll. Aber es wird Zeit, dass ich … na ja, zurückkehre.«
»Zurück? Nach Crown Heights?«
»Ja, Will. Zurück nach Crown Heights. Ich dachte, du hättest es schon vor einer Ewigkeit erraten. Und ich habe es dir immer sagen wollen, aber der Augenblick dazu war nie richtig. Es gab so viel nachzudenken, so viel auszuknobeln. Die Chassiden, die Entführung und … Beth. Aber du hast ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren.
Die Wahrheit also: Mein Name ist Tova Chaya Lieberman. Ich bin geboren in Crown Heights, Brooklyn. Ich bin das dritte von neun Kindern. Es gibt einen Grund dafür, dass ich diese Welt kenne, Will. Ich hab sie immer gekannt, von innen und von außen. Es ist meine Welt. Diese verrückten Chassiden? Ich bin eine von ihnen.«
42
SONNTAG, 18.02 UHR, BROOKLYN
Will brachte kein Wort hervor. Er saß auf dem Sofa, als drücke ihn ein wütender Sturm an die Lehne, und versuchte zu verdauen, was TC sagte. Zugleich spulten sich die Ereignisse der letzten achtundvierzig Stunden mit rasender Geschwindigkeit in seinem Kopf ab, und er sah jeden Augenblick in einem ganz neuen Licht. Nicht nur diese achtundvierzig Stunden, sondern die letzten fünf oder sechs Jahre. Alles, was er und TC gemeinsam erlebt hatten, sah plötzlich völlig verändert aus.
»Du hast die Familien mit einem Dutzend Kindern gesehen. Meine Familie war auch so. Ich war Nummer drei, und nach mir kamen noch sechs. Ich und meine ältere Schwester, wir waren wie kleine Mütter; wir haben den Babys die Windeln gewechselt und sie gefüttert, sobald wir alt genug dazu waren.«
»Und hast du … du weißt schon … hast du auch so ausgesehen?«
»O ja. Alles, was dazugehörte: lange Kleider, die bis zum Boden reichten, mausgraues Haar, Brille. Und meine Mutter trug eine Perücke.«
»Eine Perücke?«
»Ja, natürlich. Das habe ich dir nie erklärt, oder? Erinnerst du dich an die Frauen mit dem ungewöhnlich glatten Haar‹, die du gesehen hast, und dass sie alle die gleiche Frisur zu tragen schienen? Das waren scheitl, Perücken, die verheiratete Frauen aus Sittsamkeit tragen: sie dürfen ihr eigenes Haar nur ihrem Ehemann zeigen.«
»Aha.«
»Ich weiß, dir kommt das merkwürdig vor, Will. Aber du musst einfach begreifen, dass ich es wunderbar fand. Ich hab das alles verschlungen. Ich las die Geschichten im tzena ure’ena, die alten Legenden über Baal Schem Tov –«
Will sah sie fragend an.
»Den Begründer des Chassidentums. Lauter Geschichten über weise Männer, die durch den Wald wandern, und über Arme, die sich als Männer von großer Frömmigkeit erweisen und von Gott geehrt werden. Ich habe das geliebt.«
»Und was hat sich dann verändert?«
»Ich muss ungefähr zwölf Jahre alt gewesen sein. Ich malte viel in meinen Schulheften herum. Aber in diesem Alter fing ich an, selbst über das zu staunen, was ich da zustande brachte. Ich sah, dass meine Zeichnungen immer kunstvoller und, ja, ziemlich gut wurden. Aber es gab so wenig Bilder, die ich ansehen konnte. Weißt du, die orthodoxen Juden halten nicht gerade viel von Abbildern. Und eines Tages im Seminar – einer Art
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