Die Gerechten
hatte seinem Vater nie gestehen müssen, dass er sein Vertrauen auf irgendeine Weise missbraucht hatte. Dad, ich hab den Wagen zu Schrott gefahren. Dad, ich bin beim Kiffen erwischt worden. Solche Sätze hatte er niemals aussprechen müssen. Und niemals hatte er von seinem Vater hören müssen, was alle seine Altersgenossen irgendwann gehört hatten: »Mein Junge, ich bin enttäuscht.« Es jetzt zu hören – nicht diese Worte, aber diesen Ton –, war eine besondere Strafe, die nun noch zu allem andern dazukam.
»Mr. Monroe, hören Sie mir zu?«
»Wie bitte?«
»Die gute Nachricht haben Sie gehört. Möchten Sie jetzt auch die schlechte hören?«
»Eigentlich nicht, nein.«
»Die schlechte Nachricht ist, dass ich soeben mit der Rechtsabteilung der Times gesprochen habe. Die haben ein bisschen herumtelefoniert, und wissen Sie was? Sie glauben nicht, dass Sie im Auftrag der Times unterwegs sind. Tatsächlich, sagen sie, sind Sie für ein paar Tage beurlaubt. Vom Chefredakteur persönlich. Anscheinend haben Sie sich da ganz schön was eingebrockt, mein Freund.«
Will legte die Hände vor die Augen. Was für ein dummer Fehler: ihnen eine Lüge aufzutischen, die so leicht aufzudecken war. Jetzt war seine Verteidigung im Fall eines Gerichtsverfahrens bereits kompromittiert. Er hatte den Kardinalfehler aller Schuldigen begangen: Er hatte seine Geschichte geändert. Und mit seiner Karriere war es jetzt sicher auch vorbei. Man würde ihn beurlauben, »damit er sich gegen diese schwerwiegenden Vorwürfe verteidigen« könnte – und dann in aller Stille fallen lassen.
Die Tür fiel zu. Auf seltsame Weise war Will beinahe dankbar dafür, jetzt in dieser Zelle sitzen zu dürfen. Seit Freitagmorgen war er unterwegs gewesen, war fieberhaft von hier nach da gehastet, von einem neuen Plan zum nächsten übergegangen. Er war kreuz und quer durch die Stadt gehetzt, hinaus und wieder hinein, nach Brooklyn und nach Long Island, und immer hatte er sich zwingen müssen nachzudenken, sich zu konzentrieren, zu handeln. Selbst wenn er irgendwo gesessen hatte, war ihm der Zug, das Taxi nie schnell genug gefahren, und dauernd hatte er darauf gewartet, dass das Telefon klingelte oder eine E-Mail kam.
Jetzt konnte er nirgends hin, und er konnte nichts tun. Alles Planen und Nachdenken und hektische Kalkulieren war zu Ende. Sie hatten ihm nicht einmal Bleistift und Papier gelassen.
Die Pause ließ Platz für eine Erkenntnis, vor der er sich zweiundsiebzig Stunden lang verschlossen hatte; immer wieder hatte er sie verdrängt. Aber jetzt hatte er keine Kraft mehr dazu.
Alles brach auseinander. Das war die Schlussfolgerung, die er nicht hatte zulassen wollen und die sich jetzt Bahn brach. Seine Frau war verschwunden, entführt von Leuten mit einem tief verwurzelten Fanatismus. Er hatte eine Mordanklage zu erwarten und sah sich einem Berg von Indizien gegenüber, die nur schwer zu widerlegen sein würden. Und schlimmer noch, er war in eine klassische Falle gegangen.
Denn wer hatte ihn schließlich mitten in der Nacht zu diesem Mietshaus geschickt? Sollte er es wirklich für einen Zufall halten, dass ausgerechnet in dem Augenblick, da er am Schauplatz erschien, ein Mord begangen wurde? Und wie seltsam, dass der Mörder sich höchstwahrscheinlich ausgerechnet in einer chassidischen Synagoge versteckt hatte.
All dieser Unfug von ihrer Angst vor dem Ende der Welt. Sie wollten es selbst herbeiführen! Er und TC waren ihrem Komplott auf die Spur gekommen, und Freilich hatte sie mit irgendwelchen Ammenmärchen abgespeist: »Wer immer dahintersteckt, bla bla bla …« Wills erster Instinkt war richtig gewesen. Es gab keine »sie«. Die Chassiden hatten die Identität der Gerechten aufgedeckt, und aus irgendwelchen verqueren Gründen wollten sie sie alle umbringen. Will war ihnen im Weg. Gab es eine bessere Möglichkeit, ihn aus dem Verkehr zu ziehen, als eine Verhaftung durch die Polizei? Er musste es ihnen lassen: Es war ein grandioser Schachzug.
Ein komischer Gedanke, dass noch vor wenigen Tagen die treibende Kraft in seinem Leben der Beruf und die Karriere gewesen war. Seine Karriere! Sie lag in Trümmern: Der Chefredakteur selbst hatte ihn bei einem groben Fehlverhalten ertappt. Und jetzt hatte er in den Augen des Einzigen, dessen Meinung ihm wirklich etwas bedeutete, sein Ansehen verloren: in den Augen seines Vaters. Das sah er jetzt glasklar. Natürlich hatte es sich auswirken müssen, dass er all die Jahre hindurch ohne Vater
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