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Die Gerechten

Die Gerechten

Titel: Die Gerechten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bourne
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hindurchflitzen. Drei Spuren, vier, fünf – und er war drüben.
    Er musste sich zwischen einer Familie hindurchdrängen, die an der Fußgängerampel wartete; dabei riss er einem Kind den Luftballon aus der Hand. Er drehte sich um und sah, wie der Ballon in den Himmel stieg – und dass Laserauge nur einen kurzen Spurt hinter ihm war.
    Endlich erreichte er die U-Bahn-Station Atlantic Avenue. Er stürmte die Treppe hinunter und verfluchte die breite Frau, die ihm den Weg versperrte. Unten sprang er mit einer Flanke über die Sperre. Hoffentlich trogen seine Ohren ihn nicht. In jahrelanger Erfahrung mit der Londoner Underground hatte er einen sechsten Sinn für die Mischung aus Wind, Licht und Summen erworben, das ihm verriet, wenn ein Zug kam. Und Will war sicher, dass am Bahnsteig gegenüber gleich einer kommen würde. Er musste in wenigen Sekunden die Treppe hinauf und über die Brücke kommen. Hinter sich hörte er laute Schritte: Der Verfolger war nicht mehr weit.
    Als Will über die Brücke rannte, sah er den Zug einfahren. Im nächsten Moment schoss er die Treppe hinunter und stieß die Leute beiseite. Ein Piepsignal und zischende Luft kündigten die Abfahrt des Zuges an. Nur noch eine Sekunde …
    In einem einzigen Satz sprang Will von der untersten Treppenstufe und quer über den Bahnsteig. Dann war er im Zug, und die Tür hatte sich fast schon hinter ihm geschlossen, als sie stecken blieb: Vier Finger hielten sie fest. Durch die Scheibe sah Will das Gesicht. Glasklare Augen starrten ihn an, und ihr Blick ließ seine Gedärme zu Eis gefrieren. Langsam, langsam öffnete die Tür sich wieder.
    »Was machen Sie denn da? Warten Sie auf den nächsten Zug wie jeder andere auch!« Eine alte Frau, mindestens siebzig, schlug mit ihrem Gehstock auf die Fingerknöchel, die sich um die Türkante krümmten. Als der Zug anfuhr, schlug sie kräftiger zu – und die Finger verschwanden. Der Mann mit den blauen Augen blieb auf dem Bahnsteig zurück und wurde immer kleiner.
    »Ich danke Ihnen von ganzem Herzen«, keuchte Will und ließ sich auf den nächstbesten Sitz fallen.
    »Die Leute müssen mehr Respekt haben«, sagte die alte Frau.
    »Ja, das stimmt«, pustete Will. »Respekt. Ganz meine Meinung.«
    Allmählich bekam er wieder Luft, und der Sauerstoff kehrte in sein Gehirn zurück. Er sah immer wieder das gleiche Bild vor sich, wenn er die Augen schloss: seinen Vater mit einundzwanzig Jahren als Soldat in der Armee Jesu. Und nicht bloß in der Armee, sondern in der vordersten Linie. Mitglied einer handverlesenen Elite, die davon überzeugt war, die Geheimnisse des wahren Glaubens zu kennen.
    Was genau waren diese Leute? Christen, ja, aber von einer seltsamen, stahlharten Arroganz. Sie, nicht die Juden, waren das auserwählte Volk. Sie, nicht die Juden, betrachteten den Judaismus als ihr Geburtsrecht. Sie, nicht die Juden, zitierten das Alte Testament mit all seinen Prophezeiungen, und sie betrachteten die Verheißungen, die Abraham empfangen hatte, als Verheißungen, die ihnen selbst galten.
    Will schaute aus dem Fenster. DeKalb Avenue. Er sprang auf, stieg aus und nahm gleich einen anderen Zug. Sollten Laserauge und seine Freunde nur suchen.
    TC hatte sofort begriffen, was dahinter steckte. Wenn sie die Ersetzungstheologie nach dieser strikten Linie auslegten, gehörte die jüdische Religion ihnen, und zwar ganz. Die Geschichte von Abrahams Handel um Sodom wäre Teil ihres Erbes – und damit auch die Frucht dieser Geschichte, der mystische jüdische Glaube, dass die Welt von sechsunddreißig Gerechten aufrechterhalten wurde. Aus irgendwelchen Gründen hatten sie sich diesen Glauben angeeignet – und ihn mit einer neuen Wendung versehen. Sie waren entschlossen, die Gerechten einen nach dem anderen umzubringen. Aber wenn es diese verrückte christliche Sekte war, die hinter den Morden steckte, warum um alles in der Welt hatten dann die Chassiden Beth entführt?
    Das war zu viel. Will musste in aller Ruhe nachdenken. Er sah auf die Uhr. Viertel vor vier. So wenig Zeit. Er rief TCs Handy an und betete zum Himmel, sie möge irgendwie entkommen sein.
    »Will! Du lebst!«
    »Alles okay? Wo bist du?«
    »Ich bin im Krankenhaus. Mit Tom. Sie haben auf ihn geschossen.«
    »O mein Gott!«
    »Ich war auf dem Dach. Ich hörte einen Schuss, lief hinunter, und da lag er und blutete. Oh, Will …«
    »Lebt er noch?«
    »Sie operieren ihn gerade. Wer war das, Will? Wer tut so etwas?«
    »Ich weiß es nicht, TC. Aber ich sage dir, ich

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