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Die Gerechten

Die Gerechten

Titel: Die Gerechten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bourne
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vorwärts.
    Über jeder Veranda gab es einen Balkon mit einem Holzgeländer. Will stellte sich eine chassidische Version der Julia vor, wie sie von einem dieser Balkone zu ihrem Romeo herabrief. Er sah Beth vor sich, die hinter einer dieser Haustüren gefangen gehalten wurde, und plötzlich spürte er in seinen Beinen den Drang, jede einzelne dieser Treppen hinaufzustürmen und an die Türen zu hämmern, bis er seine Frau gefunden hätte.
    Eine Gruppe von Teenagern kam ihm entgegen, Mädchen in langen Röcken, die Kinderwagen vor sich her schoben, gefolgt von mindestens einem Dutzend kleiner Kinder. Will konnte nicht erkennen, ob diese Mädchen große Schwestern oder außergewöhnlich junge Mütter waren. Solche Frauen hatte er noch nie gesehen, jedenfalls nicht in New York. Sie schienen aus einer anderen Zeit zu stammen, aus den Fünfzigern vielleicht oder aus der viktorianischen Ara. Man sah keine Haut; die Ärmel ihrer adretten weißen Blusen reichten bis zu den Handgelenken, und die Röcke reichten bis zu den Knöcheln. Und die Haare: Die Älteren trugen einen unnatürlich sauber geschnittenen Pagenkopf, der sich im Wind kaum bewegte.
    Will schaute nicht allzu eingehend hin; er wollte nicht, dass sich jemand angestarrt fühlte. Aber er brauchte auch keine Bestätigung mehr: Dies war das chassidische Crown Heights. Im Gehen feilte er an seiner Tarngeschichte. Er würde sagen, er schreibe für die Zeitschrift New York eine neue Kolumne mit dem Titel »Die Farben des Big Apple«, in der Außenseiter über die einzelnen Segmente der wunderbar vielfältigen New Yorker Community schrieben, bla bla bla. Er würde sich als Forscher im Safarianzug ausgeben, der über die exotische Lebensweise der Eingeborenen berichtete.
    Und fremdartig war diese Gegend auf jeden Fall. Verzweifelt suchte er nach irgendeinem Einstieg – nach einem Büro vielleicht, in dem er erfahren könnte, wer hier etwas zu sagen hatte. Vielleicht könnte er jemandem anvertrauen, was passiert war, damit man ihm half. Er brauchte einen Ansatzpunkt, irgendetwas in diesem rätselhaften Viertel, das er verstand.
    Aber er fand nichts. Jeder Autoaufkleber schien eine Botschaft zu enthalten, die sich vielleicht zu entschlüsseln lohnte, aber alles blieb unverständlich. Zünde Sabbathkerzen an, und du erleuchtest die Welt! Und dort war ein Plakat für eine Show: Bereit für die Erlösung. Sogar die Geschäfte schienen von religiöser Inbrunst erfasst zu sein. Am »Kol Tuv«-Supermarkt hing der Slogan: Alles ist gut.
    Er blieb vor einem Schaufenster ohne Waren stehen, das mit zahllosen Mitteilungen beklebt war. Eine davon fiel ihm sofort ins Auge.
    Crown Heights ist die Heimat des Rebbe. Aus Achtung vor dem Rebbe und seiner Gemeinde bitten wir alle Frauen und Mädchen, ob sie hier wohnen oder nur zu Besuch weilen, sich zu jeder Zeit an die Gesetze der Schamhaftigkeit zu halten und die folgenden Bekleidungsregeln zu beachten:
     
    1. Geschlossene Halsausschnitte zu allen Seiten (das Schlüsselbein sollte bedeckt sein).
    2. Ellenbogen sind in jeder Haltung bedeckt zu halten.
    3. Knie sind in jeder Haltung durch Kleid oder Rock bedeckt zu halten.
    4. Beine und Füße sind vollständig bedeckt zu halten.
    5. Keine Schlitze.
    Mädchen und Frauen, die sich unschicklich kleiden und damit die Aufmerksamkeit auf ihre körperliche Erscheinung lenken, bringen Schande auf ihr Haupt, indem sie zu erkennen geben, dass sie keine inneren Qualitäten besitzen, die irgendeiner Aufmerksamkeit wert sind …
    Das erklärte die Kleidung der jungen Frauen. Aber das Wort, das Will ins Auge sprang, hatte nichts mit Halsausschnitten oder geschlitzten Kleidern zu tun. Das Wort war Rebbe. Es klang, als sei das der Mann, den er finden musste.
    Er blickte auf, um sich zu orientieren, und sah das Straßenschild: Eastern Parkway. Er war kaum zehn Schritte gegangen, als er noch ein Schild sah: »Internet Hotspot«. Er war da.
    Sein Magen zog sich zusammen, als er eintrat. Hier war es gewesen. Hier hatte jemand an einem der billigen Tische aus hellem Holz gesessen, umgeben von imitierter Holztäfelung und grauen Bodenfliesen, und hatte die Nachricht vom Raub seiner Frau geschrieben.
    Aufmerksam sah er sich im Raum um und wünschte sich den Blick eines Superhelden, der auf magische Weise jedes Detail in sich aufnahm, Röntgenaugen, die den Hinweis entdeckten, den es hier geben musste. Aber solche Augen hatte er nicht. Ruhig bleiben, befahl er sich selbst.
    Das Internetcafé war chaotisch; es

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