Die Gerechten
sprechen wollte, konnte man es hier besser als anderswo. Man konnte ja kaum an fremde Haustüren klopfen, und auf der Straße jemanden anzusprechen, war immer erst das letzte Mittel. Aber in einem Café konnte man jederzeit eine Unterhaltung anfangen – und eine Menge in Erfahrung bringen.
Hier gab es keine Cafés und keine Bars, aber Marmerstein’s Glatt Kosher würde genügen. Es hatte weniger Ähnlichkeit mit einem Restaurant als mit einer Kantine: An einer Theke gaben stattliche, großmütterlich aussehende Frauen heiße Mahlzeiten aus. Die Gäste waren hagere, blasse Männer, die Hähnchenschnitzel, saucengetränkte Kartoffeln und Eistee hinunterschlangen, als hätten sie seit vierundzwanzig Stunden nichts mehr gegessen. Will fühlte sich an den Speisesaal im Internat erinnert: dicke Frauen, die dünnen Jungen zu essen gaben.
Aber die Szenerie hier war bizarrer. Die Männer mochten aussehen, als stammten sie aus einem Bildband über das Europa des siebzehnten Jahrhunderts, aber mehrere telefonierten mit Handys. Einer tippte etwas in einen Blackberry und las gleichzeitig die New York Post. Der Zusammenprall von Alt und Neu war atemberaubend.
Will stellte sich an der Speisetheke an; er hatte zwar keinen Appetit, aber er brauchte einen Grund für seinen Aufenthalt hier. Unschlüssig stand er vor der Entscheidung, welches Gemüse er nehmen sollte – matschig gekochte Brokkoli oder matschig gekochte Möhren –, und wurde sofort von einer der Babuschkas hinter der Theke zur Eile getrieben.
»Beeilen Sie sich, ich will zum Schabbes nach Hause«, sagte sie, ohne zu lächeln. Das erklärte die Eile draußen auf der Straße: Es war Freitagnachmittag, und der Sabbat begann gleich. Tom hatte so etwas erwähnt, als er bei ihm weggegangen war, aber Will hatte es nicht registriert. Er hatte nicht daran gedacht, welcher Tag heute war. Aber das war eine schlechte Neuigkeit. Wahrscheinlich würde Crown Heights innerhalb der nächsten zwei Stunden wie ausgestorben sein; niemand würde mehr unterwegs sein, und er würde nichts weiter erfahren können. Er hatte keine Wahl, er musste jetzt schnell handeln.
Er fand, was er suchte: einen Mann, der allein am Tisch saß. Für britische Weitschweifigkeit war keine Zeit. Er musste mit amerikanischer Direktheit vorgehen: Hi, wie geht’s, wo kommen Sie her?
Der Mann hieß Sandy und war von der Westküste. Beides war eine Überraschung für Will; irgendwie hatte er erwartet, dass diese Männer mit ihren Bärten und schwarzen Hüten fremdartige Namen tragen und mit russischem oder polnischem Akzent sprechen würden. Es war ein Teil des Kulturschocks der letzten Stunde: die Erkenntnis, dass ein Eckchen dessen, was mittelalterliches Europa hätte sein können, hier und jetzt lebte und atmete, im New York des 21. Jahrhunderts. Als er jetzt einen Mann namens Sandy mit reinstem kalifornischen Akzent reden hörte, begriff er, wie wenig er über diese Welt wirklich wusste. Aber er musste sie kennen lernen, wenn er Beth finden wollte. Er fühlte sich wie ein Schwimmschüler, der merkt, dass er keinen Boden mehr unter den Füßen hat.
»Sind Sie Jude?«
»Nein, nein, ich bin Journalist.« Eine alberne Antwort. »Ich meine, ich bin hier, weil ich Journalist bin. Bei der Zeitschrift New York.«
»Cool. Wollen Sie über den Rebbe schreiben?«
»Ja. Na ja, unter anderem. Über die Community hier.«
Wie sich herausstellte, war Sandy noch ziemlich neu in Crown Heights. Er sei »’n Surfertyp« in Venice Beach gewesen, habe »rumgehangen, ’ne Menge Drogen genommen«. Bis vor sechs Jahren sei sein Leben ein Saustall gewesen, aber dann habe er einen Abgesandten des Rebbe kennen gelernt, der eine Nothilfeeinrichtung an der Küste gegründet hatte. Dieser Rabbi Gershon habe ihm eines Freitagabends ein warmes Essen gegeben, und so habe alles angefangen. Am nächsten Sabbat sei Sandy wieder dort vorbeigekommen und habe dann bei Gershon zu Hause übernachtet. »Und wissen Sie, was das Beste war – besser als Essen und Unterkunft?«, fragte Sandy mit einer Eindringlichkeit, die Will bei jemanden, den er gerade erst kennen gelernt hatte, fast peinlich fand. »Sie urteilten nicht über mich. Sie sagten nur, Hashem liebt jede jüdische Seele, und Hashem versteht, warum wir manchmal einen Umweg nehmen. Warum wir uns manchmal verirren.«
»Hashem?«
»Sorry, das ist Gott. Hashem bedeutet wörtlich: der Name. Im Judentum kennen wir den Namen Gottes, wir sehen ihn geschrieben, aber wir sprechen ihn
Weitere Kostenlose Bücher