Die Gerechten
niemals laut aus.«
Will ließ Sandy weiterreden. Er habe sein Leben in die Hände des Rebbe und seiner Anhänger gegeben. Er habe angefangen, sich zu kleiden wie sie, koscher zu essen, morgens und abends zu beten und den Sabbat zu ehren, indem er sich aller Arbeit und Geschäfte enthielt – kein Einkaufen, kein elektrischer Strom, keine U-Bahnfahrten –, und zwar von Sonnenuntergang am Freitag bis Sonnenuntergang am Samstag.
»Haben Sie so was früher auch getan?«
»Ich? Sie machen Witze. Mann, ich wusste nicht mal, was Schabbes war! Ich hab alles gegessen, was sich bewegte: Hummer, Krebse, Cheeseburger. Meine Mom wusste nicht, was koscher war und was treif.«
»Und was sagt sie zu – Sie wissen schon, zu dem hier?« Will deutete auf Sandys Kleidung und seinen Bart.
»Wissen Sie, das ist ’ne Art Prozess?« Die modische Art, Sätze wie eine Frage klingen zu lassen – selbst hier. »Die Sache mit dem koscheren Essen war schwer für sie – dass ich nicht mit ihr essen kann, wenn ich sie zu Hause besuche. Und jetzt, wo ich Kinder habe, wird’s knifflig. Aber zweifellos das Schwierigste für sie? Dass ich nicht mehr Sandy bin, sondern Shimon Shmuel. Das kriegt sie nicht in den Kopf.«
»Sie haben Ihren Namen geändert?«
»Als Namensänderung würde ich es eigentlich nicht bezeichnen. Jeder Jude hat einen hebräischen Namen, auch wenn er ihn nicht kennt. Es ist der Name der Seele. Ich kann also sagen, ich hab meinen wirklichen Namen entdeckt. Aber ich benutze beide. Wenn ich meine Mom besuche oder jemanden wie Sie kennen lerne, heiße ich Sandy. In Crown Heights bin ich Shimon Shmuel.«
»Was können Sie mir über diesen Rebbe sagen?«
»Er ist unser Oberhaupt und ein großer Lehrer. Wir alle lieben ihn, und er liebt uns.«
»Tun die Leute alles, was er sagt?«
»So ist es eigentlich nicht, Tom.« (Will hatte schnell nachdenken müssen. Bei all seiner Vorbereitung hatte er vergessen, sich ein Pseudonym auszusuchen. Deshalb hatte er Toms Vornamen und den Mädchennamen seiner Mutter genommen: Sandy glaubte, er rede mit einem Freelance-Reporter namens Tom Mitchell.) »Der Rebbe weiß einfach, was für uns alle richtig ist. Er ist der Hirte, und wir sind seine Schafe. Er weiß, was wir brauchen, wo wir wohnen und wen wir heiraten sollen. Insofern – ja, wir hören auf seinen Rat.«
Will sah seine Vermutung bestätigt. Der Rebbe zog die Strippen hier.
»Und wo wohnt er?«
»Hier in der Gemeinde, jeden Tag.«
»Kann ich ihn kennen lernen?«
»Sie sollten heute Abend zur shul kommen.«
»Shul?«
»Die Synagoge. Aber sie ist mehr als das. Das ist sozusagen unsere Zentrale, unser Versammlungshaus, unsere Bibliothek. Da erfahren Sie alles, was Sie über den Rebbe wissen müssen.«
Will beschloss, sich an Sandy anzuhängen. Er brauchte einen Führer, und Sandy war ideal. Er war nicht viel älter als Will, er war kein Rabbi und kein Gelehrter, keine Autoritätsperson, bei der er sich einschmeicheln musste, sondern ein ausgebrannter Hippie, der vermutlich ganz einfach um Hilfe gerufen hatte. Wären die Moonies schneller gewesen, wäre Sandy zu ihnen gegangen. Er war ein Mann, den man auffangen musste, wenn er stürzte. Aber er war jetzt Wills einziger Hoffnungsanker.
Plaudernd gingen sie zusammen zu Sandys erster Station.
»Sagen Sie, Sandy, was hat es mit dieser Kleidung auf sich? Wieso kleiden Sie sich alle gleich?«
»Ich geb zu, dass ich das am Anfang ziemlich schräg fand. Aber wissen Sie, was der Rebbe sagt? Wir sind individueller, weil wir uns so kleiden.«
»Wie kommt er denn darauf?«
»Na ja, was uns voneinander unterscheidet, ist nicht das Designerhemd, das wir tragen, oder irgendein teurer Anzug. Nichts Äußerliches. Was uns unterscheidet, ist das, was drinnen ist: unser wahres Selbst, unser neshama, unsere Seele. Das ist es, was nach außen strahlt. Wenn das Äußere irrelevant ist, wenn wir alle gleich aussehen, können die Menschen anfangen, das Innere zu sehen.«
Inzwischen waren sie bei einem Gebäude angekommen, das Sandy als mikve bezeichnete; es sei das rituelle Bad, erklärte er. Sie stellten sich in die Warteschlange, zahlten einen Dollar bei dem Aufseher, und Will ließ sich für weitere fünfzig Cent ein Handtuch geben. Dann ging es die Treppe hinunter in einen Raum, der aussah wie ein großer Umkleideraum.
Als Sandy die Tür öffnete, prallte ihnen eine Dampfwolke entgegen. Die Luft schien zu tropfen, und Will musste drei- oder viermal blinzeln, bis er wieder sehen konnte.
Weitere Kostenlose Bücher