Die Gerechten
hatte keine Ähnlichkeit mit den Latte-Macchiato-Bars, die er aus Manhattan oder aus Cobble Hill, seiner eigenen Gegend in Brooklyn, kannte. Hier gab es weder Espresso noch Mokka noch sonst irgendeinen Kaffee. Es gab nur Knäuel von Kabeln und Drähten, Klebezettel mit gekräuselten Ecken an den Wänden und das Bild eines älteren, weißbärigen Rabbi – ein Bild, das Will inzwischen sicher ein Dutzend Mal gesehen hatte. Die Computertische standen wild durcheinander, durch schiefe Trennwände mit wenig Erfolg in separate Arbeitsplätze eingeteilt. An der hinteren Wand, stapelten sich leere Computerkartons, aus denen das Styropor herausquoll, als hätten die Eigentümer die Geräte gekauft, ausgepackt und noch am selben Tag den Laden eröffnet.
Ein paar Leute waren da. Sie blickten kurz auf, als Will hereinkam, aber es war nicht annähernd so, wie er es befürchtet hatte. Er erinnerte sich an gelegentliche Ausflüge in abgelegene Pubs, die er als Student in englischen Großstädten unternommen hatte, feindselige Lokale, deren Gäste instinktiv in mürrisches Schweigen verfielen, wenn ein Fremder hereinkam. Aber die meisten Kunden in diesem Internetcafé waren anscheinend viel zu beschäftigt, um sich für Will zu interessieren.
Er versuchte, sich ein Bild von jedem Einzelnen zu machen. Als Erstes fielen ihm zwei Frauen auf. Beide trugen Baskenmützen. Die eine saß seitwärts auf ihrem Hocker, sodass sie mit der einen Hand den Kinderwagen mit ihrem schlafenden Baby wiegen konnte, während sie mit der anderen tippte. Will schloss sie sofort aus: Eine schwangere Frau konnte Beth nicht entfuhrt haben. Die andere Frau schied ebenfalls aus: Sie hatte ein Kleinkind auf dem Schoß, und ein müderes Gesicht hatte Will noch nie gesehen. Das Kind hatte lange Locken zu beiden Seiten des Gesichts, und man konnte nicht erkennen, ob es ein Junge oder ein Mädchen war.
Die übrigen Terminals waren entweder frei oder wurden von Männern benutzt. Für Will sahen sie alle gleich aus. Alle trugen die gleichen zerknautschten schwarzen Anzüge, die gleichen offenen weißen Hemden, die gleichen breitkrempigen schwarzen Filzhüte. Will schaute jeden durchdringend an – Hast du meine Frau entführt? – und hoffte wider besseres Wissen, dass einer von ihnen schuldbewusst erröten oder die Flucht ergreifen würde. Aber sie starrten alle nur auf ihre Bildschirme und strichen sich über die Bärte.
Will zahlte einen Dollar und setzte sich an ein Terminal. Er fühlte sich versucht, sich in seine E-Mail einzuloggen, sodass jeder, der ihm über die Schulter sähe, sofort wissen würde, wer er war. Halb wollte er, dass sie wussten, er war ihnen auf der Spur und würde die Frau finden, die sie ihm geraubt hatten.
Stattdessen nahm er sich die Zeit, gründlich zu betrachten, was er auf dem Monitor sah. Jedes Terminal zeigte zunächst dieselbe Homepage an, die Website der chassidischen Bewegung. Ein Laufband auf der linken Seite zeigte Geburtsmeldungen: Zvi Chaim bei den Friedmans, Tova Leah bei den Susskinds, Chaya Ruchi bei den Slonims. Ein Banner am oberen Rand zeigte das Rabbinergesicht, das auch an der Wand hing, im Wechsel mit der Jerusalemer Skyline. Darunter stand: Lang lebe der Rebbe Melech Hamoschiach in Ewigkeit.
Will las den Satz dreimal, als könne er einen kryptischen Hinweis enthalten. Was Melech bedeutete, wusste er nicht, aber Moschiach war ihm inzwischen vertraut, auch wenn er es in diesem Zusammenhang noch nirgends gesehen hatte. Das Wort, auf das es ankam, war Rebbe. Der Mann auf dem Bild, das überall hing – ein alter Rabbi mit biblisch weißem Bart und schwarzem Hut – war ihr Oberhaupt, ihr Rebbe.
Für Will war es ein erster Durchbruch. Wenn er diesen Mann finden könnte, würde er eine Antwort auf ein paar Fragen bekommen. Eine Gemeinde wie diese war sicher hierarchisch geordnet und diszipliniert: Nichts würde hier ohne die Einwilligung des Oberhaupts passieren. Wenn Beth von Leuten aus Crown Heights entführt worden war, musste der Rebbe dahinter stehen. Und er würde wissen, wo sie jetzt war.
Eilig verließ er das Lokal; er musste diesen Rebbe so schnell wie möglich finden. Auf der Straße fiel ihm auf, dass alle Leute es plötzlich genauso eilig hatten. Vielleicht war etwas passiert. Ob sie von der Entführung erfahren hatten?
Zwei Straßen weiter fand er, was er suchte: ein Lokal, wo man essen und trinken konnte. Für einen Reporter waren Cafés, Bars und Restaurants wichtige Orte. Wenn man mit Fremden
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