Die Gerechten
Häuser ein. Wir sind nicht einmal gegen die Presse feindselig; schon oft sind Reporter hier gewesen. Sogar die New York Times hat uns gelegentlich besucht. Nein – der Grund für diesen …« Er zögerte. »… für diesen ungewöhnlichen Empfang ist nur dies: Ich glaube nicht, dass Sie uns die Wahrheit sagen.«
»Aber ich bin Reporter. Das ist die Wahrheit.«
»Nein, die Wahrheit ist, Mr. Mitchell, dass jemand in Angelegenheiten geschnüffelt hat, die ausschließlich unsere eigenen sind, und ich frage mich, ob Sie nicht dieser Jemand sind.« Die Stimme war lauter geworden, und der Sprecher wartete, bis er sein Gleichgewicht wieder gefunden hatte. »Entspannen wir uns, ja? Es ist Schabbes, und wir alle haben eine harte Woche hinter uns. Wir haben schwer gearbeitet. Jetzt wollen wir ruhen. Also wollen wir uns Zeit nehmen und gelassen bleiben. Zurück zu meiner Frage. Sie haben sich eine ganze Weile mit Shimon Shmuel unterhalten, und deshalb bin ich sicher, dass Sie schon ein paar Dinge über unsere Gebräuche erfahren haben.«
Also haben sie mich beobachtet.
»Sie sind ein intelligenter Mann. Sie haben inzwischen verstanden, dass die Einhaltung des Sabbat eine unserer strengsten Vorschriften ist.«
Will antwortete nicht.
»Mr. Mitchell?«
»Ja, das habe ich verstanden.«
»Sie wissen, dass es uns verboten ist, am Sabbat etwas zu tragen, nicht wahr?«
»Ja. Sandy hat es mir gesagt. Shimon Shmuel.« Sofort bereute er, dass er Sandys hebräischen Namen hinzugefügt hatte; es klang, als wolle er sich einschmeicheln.
»Er hat vielleicht nicht erwähnt, dass es uns am Sabbat nicht nur verboten ist, etwas zu tragen. Wir dürfen auch keine Elektrizität benützen. Die Lampen, die jetzt brennen, wurden eingeschaltet, bevor der Schabbes begann, und sie werden die ganze Zeit brennen, bis der Schabbes morgen Abend zu Ende ist. Das ist die Vorschrift: Kein Jude darf sie ein- oder ausschalten. Überdies werden Sie bemerkt haben, dass es da draußen keine Kameras gibt. Und es sind noch nie welche draußen gewesen, nicht am Schabbes. Was Sie eben gesehen haben, ist noch niemals fotografiert oder gefilmt worden. Niemals – und zwar nicht, weil nie danach gefragt worden wäre. Verstehen Sie, worauf ich hinauswill, Mr. Mitchell?«
Jetzt, da er die Stimme eine Weile gehört hatte, nahm ein Bild des Sprechers vor seinem Auge Gestalt an. Er war Amerikaner, aber sein Akzent war anders als Sandys. Eher … ja, was? Europäisch? Will konnte es nicht identifizieren, aber es klang jedenfalls mehr nach New York – beinahe musikalisch. Ein Achselzucken lag in dieser Stimme, die Anerkenntnis der Absurdität des Lebens, das manchmal komisch und meistens tragisch war. Für einen Sekundenbruchteil sah er Mel Brooks’ Gesicht und hörte die Stimme Leonard Cohens. Er hatte immer noch keine Ahnung, wie der Mann wirklich aussah.
»Mr. Mitchell, ich muss schon wissen, ob Sie verstehen, was ich sage.«
»Nein, ich habe keine Kamera bei mir, wenn es das ist, was Sie wissen wollen.«
»Daran habe ich weniger gedacht. Eher vielleicht an ein Aufnahmegerät.«
Auch hier hatte Will eine reine Weste. Trotz seines Alters hielt er sich an das altmodische Verfahren: Notizbuch und Stift. Das hatte nichts mit Maschinenstürmerei zu tun; es war reine Faulheit. Das Transkribieren von Bandaufzeichnungen war eine lästige Arbeit: Man machte ein halbstündiges Interview und verbrachte dann eine Stunde damit, es abzuschreiben. Den Minidisc-Recorder benutzte er nur für Interviews, bei denen es auf jedes Wort ankommen konnte – mit Bürgermeistern, Polizeichefs und solchen Leuten. In anderen Fällen blieb er bei Papier und Stift.
»Nein, ich habe nichts aufgezeichnet. Aber warum wäre es ein Problem –«
Plötzlich wurde er nach vorn und hoch gerissen. Der dunklere, jüngere Mann zu seiner Linken hatte anscheinend das Kommando dabei. Beide Männer schlangen die Arme unter seine Achseln und zogen ihn hoch, wobei sie darauf achteten, dass er sich nicht umdrehen konnte. Dann stellte der dunklere Mann sich vor ihn, und ohne ihm in die Augen zu sehen, spreizte er Wills gestreckte Arme vom Körper, griff unter seine Jacke und strich über sein Hemd, über seinen Rücken, unter seine Achseln, ganz wie ein eifriger, gewissenhafter Security-Posten am Flughafen.
Natürlich. Aufzeichnungsgerät. Sie suchten kein Reporter-Diktaphon. Sie suchten nach einem Sender. Sie befürchteten, er sei von der Polizei oder vom FBI. Kein Wunder: Sie waren Entführer, und
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