Die Gerechten
nächsten paar Sekunden wurde Will klar, dass dies nicht irgendein schrecklicher Zwischenfall war, der sich bald aufklären würde, sondern tatsächlich ein Albtraum. Bis jetzt hatte er sich an den Gedanken geklammert, das Ganze sei ein Irrtum oder vielleicht eine ironische Parodie der Vernehmungsszene aus eintausend Kinofilmen. Er hatte gehofft, die Identität seines Inquisitors bald zu erfahren und irgendwie weiterzukommen, und vielleicht würde es einfach aufhören. Aber jetzt war er sicher, dass diese Leute, die seine Frau entführt hatten, ihn foltern und umbringen würden, vermutlich auf sadistische Weise. Schlimmer noch – und bei diesem Gedanken drehte sich ihm der Magen um: Was immer sie mit ihm vorhatten, hatten sie zweifellos auch schon mit Beth getan.
»Nein!«, schrie er, aber es half nichts. Jemand hielt seine Arme auf dem Rücken fest, und jemand anders schnallte seinen Gürtel auf. Eine Hand presste sich auf seinen Mund. Das konnte der Israeli nicht allein tun. Aber woher kamen all diese Hände? Wem gehörten sie? Und im nächsten Augenblick hatte man ihm die Unterhose heruntergerissen.
»Halt!« Das war der Rebbe. »Sie haben die Wahrheit gesagt. Sie sind kein Jude.«
Will konnte nur vermuten, was hier geschah: Der Rebbe stand vor ihm, betrachtete seinen Penis und sah, dass er nicht beschnitten war. »Sie sind kein Jude«, wiederholte er und befahl dann seinen Gehilfen: »Bedeckt ihn wieder. Das ist eine gute Neuigkeit, Mr. Mitchell. Ich glaube jetzt, dass Sie kein FBI-Agent und kein Polizist sind. Ich hatte diesen Verdacht, nachdem Sie mit Ihren vielen Fragen hier herumgestöbert haben. Aber diese Leute kenne ich, und ich weiß, sie hätten Ihnen erstens einen Sender mitgegeben, und zweitens hätten sie einen Juden geschickt. Und sie hätten sich für sehr schlau gehalten. O ja. Richtige Genies, die Agent Goldberg anrufen und sagen: ›Hier ist ein Auftrag, auf dem Ihr Name steht.‹ So denken sie. Schicken einen Araber, um eine muslimische Terroristenbande zu infiltrieren, schicken einen Juden zu uns. Aber Sie sind kein Jude, also arbeiten Sie nicht für sie. Das glaube ich Ihnen jetzt.«
Wills Hose wurde wieder hochgezogen, der Gürtel wurde festgeschnallt, und wenigstens in dieser Hinsicht war er aus dem Schneider: Er war kein Undercover-Agent des FBI. Die Angst, die ihn noch vor ein paar Augenblicken gepackt hatte, ließ wieder nach. Sein ganzer Körper, sein Herzschlag, seine feuchten Handflächen – alles schaltete von Alarmstufe Rot zurück auf Alarmstufe Orange.
»Sie sehen erleichtert aus, Mr. Mitchell. Tom. Das freut mich. Das Dumme ist: Wenn Sie kein FBI-Mann sind, müssen Sie für jemand anderen arbeiten. Und das ist leider sehr viel ernster.«
17
FREITAG, 21.22 UHR, CROWN HEIGHTS, BROOKLYN
Er hatte nicht lange Zeit, verwirrt zu sein. Als der Rebbe zu Ende gesprochen hatte, wurde Will im nächsten Augenblick vorwärts gedrückt, sodass er in der Taille einknickte. Seine Arme wirkten wie Hebel: Jemand packte ihn bei den Handgelenken und zog sie nach hinten, sodass Kopf und Schultern sich nach vorn neigten. Er stellte sich vor, dass er aussah wie eine Marionette, vielleicht wie einer dieser mechanischen Soldaten, die zu beiden Seiten einer Uhr auf einem europäischen Dorfplatz hervorkamen, zwei Ritter zu Pferde, die seit siebenhundert Jahre zu jeder vollen Stunde ins Turnier ritten, heute nur noch zum Vergnügen knipsender Touristen. Seine Arme und sein Oberkörper bewegten sich – aber nur, weil im richtigen Augenblick an den richtigen Schnüren gezogen wurde: die Handgelenke nach hinten, der Kopf nach vorn. Tick tack, tick tack.
Nur, dass diese Bewegung einen Zweck hatte, ein Ziel. Sein Kopf wurde nicht heruntergedrückt, um dann wieder aufgerichtet zu werden, sondern um ein Ziel zu erreichen, das dicht vor ihm war. Er wusste nicht, was es war, aber er bewegte sich darauf zu. Vorwärts.
Seine Nase fühlte es zuerst. Sie füllte sich mit Wasser. Dann seine Kopfhaut, die sich in der Kälte zusammenzog. Er gurgelte, würgte, schnappte nach Luft.
Sein Kopf war bis zum Hals ins eiskalte Wasser getaucht, und noch immer trug er die Augenbinde. Der Schock presste ihm die Brust zusammen, und sein Herz jagte. Blind und deshalb unvorbereitet, war er mit einiger Wucht in das eiskalte Wasser gestoßen worden. Fünf oder sechs Sekunden lang drückten sie ihn mit den Schultern nach unten, lange genug, dass das Wasser durch seine Nase ins Gehirn dringen konnte – so jedenfalls fühlte
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